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Blog: Chefhandicapper Harald Siemen

Schweizer Uhrwerk

9. Juni 2021

Als Begründer des modernen Handicappens gilt der 2004 im Alter von 93 Jahren verstorbene Brite Dick Whitford. Whitford war im Krieg erster Offizier eines Patrouillenbootes und hatte dort so viel Zeit, dass er sich ungestört – unterbrochen nur durch einen Einsatz am D-Day – dem Studium von Rennkalendern und Formbüchern widmen konnte.

Als Quintessenz daraus schuf er eine Handicapskala von 0-140, die auch heute noch angewendet wird, nicht nur im angelsächsischen Einflussbereich, sondern auch vom „World´s Best Racehorse Rankings Committee“ bei der Erstellung der Weltranglisten. Nach dem Krieg gründete Whitford zusammen mit Phil Bull die Timeform-Organisation und war danach 20 Jahre lang als Berater von Rennställen und Großwettern tätig, bevor er 1970 als privater Handicapper zur „Sporting Life“ wechselte, der Vorgängerin der heutigen „Racing Post“. Seine dort veröffentlichten Tipps warfen so lange regelmäßig Gewinne ab, bis sie „überwettet“ wurden. 1984 schied er bei der „Sporting Life“ aus und verbrachte seine letzten Jahre auf Mallorca. Er sagte einmal: „Das Vollblutpferd ist absolut einzigartig im Tierreich. Es gibt nichts, das mit einer solchen Aufmerksamkeit und Fürsorge behandelt wird wie das Rennpferd, und nach 300 Jahren ernsthaft betriebener Zuchtauswahl haben wir etwas, das – wenn alles in Ordnung ist – so präzise läuft wie ein Schweizer Uhrwerk.“

Nun ja – allzu wörtlich darf man das mit dem Uhrwerk sicher nicht nehmen, aber Rennpferde zeigen doch häufiger eine verläßliche Form als allgemein angenommen. Kaspar zum Beispiel. Er hat einige Zeit gebraucht um erwachsen zu werden, aber seit dem Derby zeigt er sein Können mit einer erstaunlichen Beständigkeit: 95.5–97.5–95.0–97.5–95.5–96.5. Das sind die Leistungszahlen von Kaspar bei seinen letzten sechs Starts, wobei die leicht aus dem Rahmen fallenden 95 kg aus dem Großen Preis von Baden stammen, als er ein Opfer der dort praktizierten Bummelei wurde. Bildet man den Mittelwert aus der obigen Zahlenreihe, so kommt man auf 96,5 kg und damit auf die Marke, die ausgereicht hat, um am vorigen Sonntag den G2-Großen Preis der rp-Gruppe zu gewinnen, den nach Mülheim transferierten Großen Preis der Badischen Wirtschaft. 

Schwierigkeiten bei der Bewertung des Rennens bereiteten Only the Brave und Noble Music auf den Plätzen drei und vier, denn von allen Teilnehmern hatten sie mit 90 bzw. 88,5 kg die niedrigsten Marken aufzuweisen. Wir mussten akzeptieren, dass beide ihre bisherigen Leistungen deutlich überboten haben, damit wir für den Sieger auf eine Marke kommen, die angesichts der unbestreitbaren Klasse der übrigen Starter als vernünftig und angemessen anzusehen ist.

Wir haben uns an Grocer Jack orientiert und 94,5 kg zugrunde gelegt, für ihn die beste Marke seit dem Preis von Europa im vorigen August. Darüber ergeben sich 96,5 kg für Kaspar, was einem internationalen Rating von 113 entspricht. Kaspar brauchte also seine Bestform (97,5 kg) nicht zu zeigen, er stand ohnehin sehr günstig in der Partie, hatte gegenüber Torquator Tasso drei und gegenüber dem letzten Zusammentreffen mit Nerium zweieinhalb Kilo in der Hand. So war Kaspar ein ganz und gar logischer Sieger und wäre sicher auch der Tipp von Dick Whitford gewesen.

Torquator Tasso war sicher die Enttäuschung des Rennens, aber bis zu drei Kilo an starke Gegner zu geben, ist eine große Aufgabe. Iquitos, Guignol, Novellist, Danedream, Germany und Platini haben diese Aufgabe gelöst, andere – selbst ein Tiger Hill – sind daran gescheitert. Aufgrund seiner Gewichtsbelastung kommt

Torquator Tasso trotz des vorletzten Platzes immerhin noch auf eine gezeigte Leistung von 94,5 kg. Der Große Hansa-Preis soll seine nächste Aufgabe sein. Dort tragen alle das gleiche Gewicht.

 

* * *

Der Sieg von Kaspar gibt mir Gelegenheit an eine der größten Renn- und Zuchtstuten des deutschen Rennsports zu erinnern, an Contessa Maddalena. Die 1925 geborene Landgraf-Tochter entstammte der damals in hohem Ansehen stehenden Zucht des Baden-Badener Unternehmers Richard Haniel und war die vielleicht populärste Rennstute des vorigen Jahrhunderts. Wenn sie lief, überklebte man in Berlin die Rennplakate an den Litfaßsäulen mit dem Hinweis „Contessa Maddalena am Start“. Sie erwarb sich ihre Popularität durch eine Siegesserie ohnegleichen, gewann gleich ihr erstes Rennen mit „Weile“ und auch bei ihren nächsten neun Starts war sie immer weit voraus, näher als drei Längen kam nie ein Gegner an sie heran. Sie gewann zweijährig alle acht Rennen die sie bestritt, darunter Zukunfts-Rennen, Preis des Winterfavoriten und Ratibor-Rennen. Dreijährig siegte sie noch überlegen in Henckel-Rennen (heute Mehl-Mülhens-Rennen) und Kisasszony-Rennen (1000 Guineas), bevor sie in einem internationalen Fliegerrennen zum ersten Mal geschlagen wurde. Sie blieb auch vierjährig noch im Rennstall, ihre große Form war aber dahin. Auch im Gestüt war sie eine Ausnahmeerscheinung. Ihre beste Tochter Contessa Pilade erreichte fast die Klasse der Mutter, gewann neun Rennen in Folge, bevor sie in dem von Allgäu gewonnenen Derby als Dritte ihre erste Niederlage erlitt. Eine weitere Tochter der Contessa Maddalena war Contessa Oleanda, die 1937 von Peter Mülhens für sein Gestüt Röttgen erworben und dort Gründerin der so erfolgreichen Röttgener „K-Linie“ wurde, der auch Kaspar angehört.

Contessa Maddalena brachte insgesamt neun Fohlen und wurde steinalt. Nach zehn vergeblichen Zuchtversuchen verkaufte Ulla Haniel von Rauch sie 1950 an einen ihrer größten Bewunderer, den Wuppertaler J. Langemann. Der gab ihr das Gnadenbrot, zunächst im Gestüt Erfttal, danach im Gestüt Römerhof. 1954 ging sie ein, 29 Jahre alt. Ihr letzter Besitzer ließ sie nach Wuppertal bringen und dort in seinem Garten begraben.

* * *

Im Gestüt Röttgen hatte es bereits einen Tag vor Kaspars großen Erfolg einen Grund gegeben, die Champagnerkorken knallen zu lassen. Denn Englands überraschender Derbysieger Adayar ist Röttgener Ursprungs, geht auf die inzwischen so berühmte Anna Paola zurück, die Diana-Siegerin des Jahres 1981. Anna Paola hatte vorher bereits den Preis des Winterfavoriten gewonnen (mit 5 Längen), erkrankte aber im folgenden Frühjahr und war erst im Preis der Diana wieder herauszubringen, den sie mit halber Kondition gewann. In dem von Orofino mit 12 ¾ Längen Vorsprung gewonnen Derby wurde sie Fünfte, gewann dann noch den Stutenpreis in Krefeld, womit ihre Rennlaufbahn früher als geplant ein Ende fand. Im Februar 1982 konnte man lesen, dass sie an Scheich Mohammed verkauft wurde, der damals im Begriff war, sein Zuchtimperium aufzubauen. Nachkommen der Anna Paola haben inzwischen auf vier Kontinenten große und größte Rennen gewonnen und sie hat sich dadurch den Titel einer „Blue Hen“ erworben. Weitere Anmerkungen zu dieser Familie, deren Stammmutter Adria seit 1938 in Röttgen zu Hause ist, hatte ich kürzlich nach dem Sieg von Adrian im Grand Prix-Aufgalopp gemacht. Jetzt hat Scheich Mohammed aus der Anna Paola in vierter Generation mit dem Frankel-Sohn Adayar seinen zweiten Derbysieger gezogen. Der erste war vor drei Jahren Masar, und auch dieser enstammt einer uralten deutschen Mutterlinie, deren Gründerin die 1887 vom Gestüt Schlenderhan aus England importierte Sainte Alvere ist. 

Noch wenige Stunden vor dem Start zählte Adayar mit 50:1 zu den größten Außenseitern, spätes Geld drückte den Kurs auf 16:1. Mit 4 ½ Längen fiel der Sieg sehr komfortabel aus, großen Anteil durch einen klugen und vor allem sehr mutigen Ritt hatte dabei sein Reiter Adam Kirby. In der am Donnerstag erscheinenden neuen Weltrangliste wird Adayar mit einem Rating von 121 (100,5 kg) vertreten sein.

 

Deutscher Galopp

Die neue Marke Deutscher Galopp (ehemals GERMAN RACING) bildet die große Dachmarke, unter der spannende Pferderennen und stimmungsvolle Veranstaltungen auf den deutschen Rennbahnen stattfinden. Gleichzeitig fungiert die Marke als Oberbegriff für den Galopprennsport in Deutschland.

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