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Blog: Chefhandicapper Harald Siemen

No wish concert

11. August 2021

Der erste Musikwunsch im deutschen Rundfunk war der damals beliebte Schlager „In fünfzig Jahren ist alles vorbei“ und wurde 1924 aus dem Vox-Haus in Berlin gesendet. Das war die Geburtsstunde des Wunschkonzerts, eine Sendeform, die bis in die heutigen Tage reicht. Auch in einem anderen Sinn ist das Wunschkonzert heute allgegenwärtig und damit Gegenstand einer der am häufigsten benutzten und daher auch am meisten ausgeleierten Redensarten deutscher Sprache. Das Leben, die Familie, der Fußball – alles kein Wunschkonzert.

Jürgen Klopp übersetzte das vor einigen Jahren bei einer Pressekonferenz in Liverpool sogar eins zu eins ins englische und sagte tatsächlich „Football is no wish concert“. Durch das Netz geistert sogar ein Lied mit dem Titel „Impfen ist kein Wunschkonzert“. Und wer Abwechslung liebt, der kann das Wort ersetzen durch Ponyhof oder Kindergeburtstag. Natürlich sind auch Pferderennen keine Wunschkonzerte, das war auch am Dienstag in der „Sport-Welt“ zu lesen. Und es bestätigte sich erneut am vorigen Sonntag beim 131. Longines Großer Preis von Berlin, als der von den meisten erhoffte Sieg eines deutschen Pferdes wieder einmal ausblieb, zum dritten Mal in den vergangenen vier Jahren.

Dabei waren die Erwartungen groß gewesen und hatten zu allererst auf dem Vorjahressieger Torquator Tasso geruht, dem augenblicklichen Flaggschiff des deutschen Turfs. Aber in der entscheidenden Phase, 400 Meter vor dem Ziel, schloss der Reiter der späteren Siegerin ziemlich hemdsärmelig eine Lücke, die auch Torquator Tassos Steuermann anvisiert hatte. Der Hengst musste nach außen bugsiert werden und bis die etwas schwerfällige Maschinerie bei Torquator Tasso wieder auf Hochtouren lief, war das Ziel da. Den Sieg hat dieses erzwungene Manöver wohl nicht gekostet, aber es wäre vielleicht eng geworden. Für den Handicapper sind solche Spekulationen ohne Wert, er hat von dem Ergebnis auf dem Rasen auszugehen und das besagt, dass Alpinista zweieinhalb Längen vor unserem „Galopper des Jahres“ durchs Ziel ging. Die angestrebten 100 Kilo hat Torquator Tasso damit erst einmal deutlich verpasst. Wir verorten seine Leistung in Hoppegarten bei 97,5 kg, gerechnet über den auf Platz drei eingekommenden Walton Street, der nach einer mehrmonatigen Pause etwas unter seiner Bestform geblieben sein könnte. Für die Siegerin Alpinista bedeutet das eine Steigerung um anderthalb Kilo auf 98 kg (Rating 116). Das ist eine hohe Marke, besonders für eine Stute und eröffnet ihr alle Möglichkeiten, so dass man etwas überrascht war, als ihr Trainer als eines der nächsten Ziele den Preis von Europa in Köln nannte. Aber Sir Mark Prescott (73) ist ein Meister seines Fachs, der seine Pferde behutsam und gezielt einzusetzen pflegt und auch stets darauf bedacht ist, den Handicapper immer etwas im Unklaren über das Leistungsvermögen seiner Pferde zu lassen. Sein Trainingsetablissement Heath House in Newmarket gilt als das älteste seiner Art auf der Welt, seit Tregonwell Frampton dort im Jahr 1695 anfing, Pferde professionell auf Rennen vorzubereiten.

Über Alpinista kann man natürlich nicht sprechen, ohne ihre Großmutter Albanova erwähnt zu haben, von der sie auch die Schimmelfarbe hat. Albanova ist 2004 als Fünfjährige drei Mal gelaufen und hat dabei drei Gruppe 1-Rennen gewonnen: Den Deutschland-Preis in Düsseldorf, den Rheinland-Pokal in Köln und den Preis von Europa ebenfalls in Köln. Mit leichter Verwunderung stelle ich heute fest, dass uns Handicappern diese Großtaten nicht mehr als 96 kg (Rating 112) wert waren, aber bei genauerem Hinsehen war die Konkurrenz damals doch deutlich schwächer als am vorigen Sonntag in Hoppegarten. Alpinista ist die dritte Stute, die den Großen Preis von Berlin gewonnen hat, seit das Rennen wieder in Hoppegarten gelaufen wird, und die sechste in den letzten 25 Jahren. Die 98 Kilo, die sie für ihren Sieg bekommen hat, wurden nur von Danedream (99 kg) übertroffen. Hollywood Dream kam auf 97,5 kg, Nymphea auf 97 kg, Albanova und Gonbarda auf 96 kg.

 

* * *

Das 152. Deutsche Derby liegt nun schon etwas mehr als sechs Wochen zurück und die fünf Pferde, die hinter Sisfahan durchs Ziel gingen, sind alle schon wieder gelaufen. Das ist immerhin ein Fortschritt gegenüber dem Vorjahr, als bis Mitte August lediglich Kaspar und Notre Ruler wieder am Start waren. Gewonnen von den Fünf hat lediglich der Derbysechste Nordstrand, aber um in einem Sieglosenrennen gegen vier Gegner zu siegen, brauchte es keine Heldentat. Ansonsten hat sich Imi in Hoppegarten auf 94,5 kg gesteigert, Lord Charming hat im Dallmayr-Preis seine Derbyleistung bestätigt, Aff un Zo blieb im Großen Preis von Berlin ein Kilo unter seiner Marke aus dem Derby. Bleibt noch Alter Adler. Der war lange Zeit für den Großen Preis von Berlin im Gespräch, lief dann aber – nicht nur für mich etwas überraschend – nahezu zeitgleich im Prix de Reux, einem Gruppe 3-Rennen in Deauville. Für einen Derbyfavoriten, der nach Ansicht vieler sogar eine Art moralischer Derbysieger war, bedeutete das eher einen Schritt zurück als nach vorne, denn viel zu gewinnen gab es dort außer dem Preisgeld nicht. Der Prix de Reux wird gerne als Aufgalopp für den Grand Prix de Deauville einige Wochen später an gleicher Stelle genutzt. Die mit Abstand Prominentesten in der Siegerliste sind Swain und Americain, die im weiteren Verlauf ihrer Karriere King George VI & Queen Elizabeth Stakes bzw. den Melbourne Cup gewonnen haben. Auch Ashrun siegte vor zwei Jahren für Trainer Wöhler gegen Walton Street. Die Gegnerschaft war eigentlich überschaubar, lediglich Mogul stach etwas heraus, der Ballydoyle-Vertreter und In Swoop-Bezwinger läuft aber in diesem Jahr seiner Form hinterher. So wurde Alter Adler durch spätes Geld sogar Totofavorit. Sein Reiter versuchte das Rennen von vorne zu gewinnen, was eigentlich keine schlechte Idee war. Ob aber das von ihm gewählte, für Frankreich typisch langsame Tempo ideal war, sei einmal dahingestellt. Mir scheint, dass es Alter Adler etwas an „Kick“ fehlt, also an der Fähigkeit, entscheidend zu beschleunigen. So lief ihm der Außenseiter Glycon zum Schluss noch auf zwei Längen weg, ein fünfjähriger Wallach mit einem Pre-Rating von 91,5 kg. Mein französischer Kollege bewertet die Leistung von Alter Adler mit 92,5 kg, der knapp hinter ihm auf Rang drei endende Schlenderhaner Northern Ruler (trug ein Kilo mehr) bestätigte seine Marke von 93,5 kg. Dem Derby und auch Alter Adler selbst hilft das alles nicht weiter, aber verloren ist auch noch nichts. Der Große Preis von Baden steht angeblich weiter auf der Agenda, dort wird es ein anderes Rennen geben.


Der nächste Handicapper Blog erscheint erst wieder am 1. September während der Großen Woche Baden-Baden

Deutscher Galopp

Die neue Marke Deutscher Galopp (ehemals GERMAN RACING) bildet die große Dachmarke, unter der spannende Pferderennen und stimmungsvolle Veranstaltungen auf den deutschen Rennbahnen stattfinden. Gleichzeitig fungiert die Marke als Oberbegriff für den Galopprennsport in Deutschland.

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