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Blog: Chefhandicapper Harald Siemen

Nach vorne gesprungen

24. Juni 2020

Die Zahl hundert nimmt in unserem Kulturkreis eine besondere Stellung ein. Sie markiert die äußerste Lebensdauer eines Menschen, bezeichnet nach der Skala von Anders Celsius den Siedepunkt des Wassers, und in der Grundschule lernen die Kinder seit Adam Rieses Rechenbuch als erstes das bis 100 reichende kleine Einmaleins. Im Übrigen gilt hundert als „runde“ Zahl und steht als Synonym für eine lange Zeit. So mussten denn sogar 101 Jahre vergehen, ehe zum 100. Male die deutschen 1000 Guineas gelaufen werden konnten, denn 1945 und 1946 fiel das Rennen aus. Es hat diverse Namenswechsel hinter sich, am Anfang hieß es Kisasszony-Rennen, danach Schwarzgold-Rennen, Arag-Preis und Henkel-Rennen, bis es jetzt den recht einfallslosen und für den Außenstehenden rätselhaften Namen „German 1000 Guineas“ trägt, dem seit ein paar Jahren der Name des Sponsors Wempe zugesellt wurde. Seine Bestimmung ist aber über die Zeitläufte hinweg bestehen geblieben, denn es soll als „klassisches Rennen“ die beste dreijährige Stute über die Meilendistanz ermitteln. Diesem Anspruch sind die deutschen 1000 Guineas im Großen und Ganzen gerecht geworden, wenngleich die Resultate aus deutscher Sicht in letzter Zeit etwas zu wünschen übrig gelassen haben, da zuletzt vier Mal in Folge englische Stuten vorne gewesen sind. Überhaupt ist es schon länger her, dass eine wirklich erstklassige Stute gewonnen hat. Bei Anlegung eines strengen Maßstabes wird man dieses Prädikat in diesem Jahrhundert wohl nur Mi Emma, Anna Monda und der dreifachen Gruppe-I-Siegerin Crimplene aus England zubilligen wollen. Andere große Siegerinnen aus den Jahren davor waren Elle Danzig, Que Belle, La Blue, Tryphosa, Filia Ardross, Alte Zeit und Majorität.
Ob die diesjährige Siegerin Lancade in diese Klasse aufsteigen kann, wird sich zeigen. Sie hat am Sonntag sehr überzeugend gewonnen und war einwandfrei das beste Pferd im Feld, auch wenn die englische Favoritin Rose of Kildare einige Verkehrsprobleme zu bewältigen hatte. Angesichts ihres offensichtlichen Talents erstaunt es, dass sie nicht zum regulären Nennungsschluss gemeldet wurde. Sie musste erst nachgenannt werden, was aufgrund des halbierten Rennpreises noch einigermaßen preiswert war. Für den Henkel-Preis der Diana sähe das schon anders aus, aber Ambitionen in diese Richtung sind wohl nicht vorhanden. Dabei scheinen vom Pedigree her die dort geforderten 2200 Meter durchaus in Reichweite. Seit Elle Danzig im Jahre 1998 hat keine Stute mehr das klassische Doppel geschafft, allerdings haben es auch nur zwei überhaupt versucht. Zuletzt Ajaxana (Neunte) und davor Rose of Zollern (Zweite). Vor noch nicht allzu langer Zeit war es noch selbstverständlich, das Doppel anzustreben, in den 1980er-Jahren schafften Comprida, Majorität, Alte Zeit und Filia Ardross das sogar vier Jahre in Folge.

Video: Wempe 100. German 1000 Guineas (Gr.II) - Siegerin: Lancade

Der Sieg von Lancade war für uns Handicapper 94 kg wert (Rating 108), gerechnet über die zweitplatzierte No Limit Credit. Für die deutschen 1000 Guineas ist das ein ordentlicher Wert, die Ratings für die vier englischen Siegerinnen vor ihr lauteten 93,5/94,5/94,5/93 kg. Die höchste jemals für dieses Rennen vergebene Marke, auch das sei hier noch gesagt, erreichte Mi Emma 2007 mit 97,5 kg, als sie 9 Längen vor der späteren Diana-Siegerin Mystic Lips einkam.

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Ist es nicht ein merkwürdiger Zufall, dass sowohl die ersten deutschen 1000 Guineas im Jahr 1919 als auch die hundertsten inmitten einer weltweiten Pandemie stattgefunden haben? So wie heute das Coronavirus SARS-CoV-2, so griff auch die damals grassierende „Spanische Grippe“ vor allem die Lunge an. Zu den Millionen von Toten zählte auch Frederick Trump, der aus Deutschland eingewanderte Großvater des heutigen amerikanischen Präsidenten. Doch welch ein Unterschied! Während diesmal nur einige Wenige den Sieg von Lancade live verfolgen durften, kam es damals zum Massenbesuch, obwohl die Berliner Verkehrsbetriebe gestreikt hatten. Was stand damals in der „Sport-Welt“ über jenen Renntag in Berlin, als erstmals das Kisasszony-Rennen, die deutschen 1000 Guineas, entschieden wurden? Hier kommt es:
„Es gibt immer noch Steigerungen! Der Tag brachte mit 222.000 Mark an Eintrittsgeldern die höchste Zahl, die bisher auf der Grunewaldbahn erzielt worden ist. Versucht man die Umstände dieses Massenbesuches zu schildern, so geschieht es am besten mit dem Worte 'überfüllt'. Eine endlich sommerlich warm gewordene Sonne beschien das Bild der riesigen Massen. Die in Mengen aufgetauchten Strohhüte und die Mode gewordenen grünen Damenhüte schufen farbige Punkte.

Wer hätte angenommen, dass ohne eine bis zur Stadion-Station fahrende U-Bahn und ohne Eisenbahnverkehr ein Riesenbesuch möglich sein würde. Da kann man nur sagen, der Berliner weiß sich zu helfen. Tausende von Pferde-Fuhrwerken waren aus allen Berliner Stadtteilen am Sonntag zur Rennbahn unterwegs. "Der Korso ist wirklich interessant und gehört in die Zeitbilder. Die ganze Riesenschlange muss gefilmt werden, damit wir und unsere Kinder später einmal sehen, wie wir fuhren als Hoch- und Eisenbahn uns im Stiche ließen, als nur wenige Autos vorhanden waren und wir auf das Pferd zurückgriffen.“
Im Rennen selbst gab es den erwarteten Sieg der 11:10-Favoritin Tulipan, „aber der ganze Stil ihres Sieges machte keinen überwältigenden Eindruck“, stellte die „Sport-Welt“ fest. Tulipan gewann später noch den Preis der Diana und zählt damit zu den 27 Stuten, die in den 100 zurückliegenden Jahren das klassische Doppel geschafft haben. Hier sind ihre Namen: Tulipan, Melanie, Stromschnelle, Sichel, Ausflucht, Dornrose, Nereide, Tatjana, Schwarzgold, Königswiese, Aralia, Asterblüte, Liebeslied, Thila, Ivresse, Santa Cruz, Brisanz, Lis, Schönbrunn, Oraza, Alaria, Leticia, Comprida, Majorität, Alte Zeit, Filia Ardross und Elle Danzig.

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Kein Duke war da und kein Earl, noch nicht einmal der kleinste Peer. Und die Queen auch nicht – zum ersten Mal überhaupt, seit sie Königin ist. Royal Ascot in Corona-Zeiten: Keine Zuschauer, keine Hüte, dafür Mundschutz und Abstandhalten für Aktive und Funktionäre. Ascot-Flair allenfalls vor den Bildschirmen, denn potentielle Besucher waren aufgefordert, sich in ihrer „Stay-at-Home-Enclosure“ fein anzuziehen, den Champagner kühl zu halten, Fotos davon in die sozialen Medien zu stellen und fünf Pfund zu spenden. Alles war also anders. Nur die Rennen nicht, sie waren große Klasse, wie immer. Das Rennprogramm wurde zwar etwas umgestellt und ausgeweitet – aber die üblichen Verdächtigen bestimmten erneut das Geschehen. Allen voran John Gosden und Frankie Dettori. 6 der 19 Grupperennen gingen an den Gosden-Stall, wobei die Siege von Lord North (Rating 124=102 kg) in den G1-Prince of Wales's Stakes und von Stradivarius bei seinem dritten Erfolg im Ascot Gold Cup die Highlights des Meetings waren. Stradivarius ließ die Konkurrenz verblüffende 10 Längen hinter sich, eine überragende Form, mit der er sich ein Rating von 125=102,5 kg verdiente. Das ist die höchste jemals im Gold Cup vergebene Marke seit den Zeiten der Supersteher Ardross, Le Moss und Sagaro vor 40 Jahren.

Video: Royal Ascot Gold Cup 2020 - Sieger: Stradivarius - At The Races

Der Ascot Gold Cup ist ja nicht irgendein Rennen, sondern eines, um das sich Legenden und Anekdoten ranken. Eine davon geht zurück auf das Jahr 1907, als es ein totes Rennen zwischen den Pferden The White Knight und Eider gab. (Eider, der später in den Gestüten Hülchrath und Mansbach als Deckhengst wirkte.) Eider verlor den halben Sieg nach Protest, weil sein Reiter sich an der Satteldecke des Gegners festgehalten haben soll. Während der Protest die Wogen der Erregung hochschlagen ließ, muss der Bewacher des Gold Cups kurzfristig unaufmerksam geworden sein. Jedenfalls – der wertvolle Pokal wurde gestohlen und tauchte auch nie wieder auf. Da am selben Tag der hochberühmte amerikanische Autor und Humorist Mark Twain in London eingetroffen war, amüsierten sich die Londoner am nächsten Tag über zwei nebeneinander stehende Meldungen in einer angesehenen Zeitung: „Mark Twain in London eingetroffen“ – „Gold Cup gestohlen.“ Bei einem abendlichen Festbankett versicherte der damals 72jährige Autor von „Tom Sawyer und Huckleberry Finn“ den Anwesenden, dass er nicht so unehrlich sei wie er aussehe und deshalb auch nicht der Dieb sei, aber wegen der Zeitungsmeldung leider nicht dazu gekommen sei, eine Rede vorzubereiten, da er sich die ganze Zeit mit der Wiederherstellung seiner Ehre beschäftigen musste.
Deutsche Rennpferde haben sich eher selten am Start dieses 4000-Meter-Rennens blicken lassen. Wenn ich mich nicht täusche, war Prairie Snoopy im Jahre 1979 der erste, er wurde Sechster. Danach folgten Camp David (10.), Le Miracle (2007 Dritter, 2008 Neunter), Altano (5.), Earl of Tinsdal (12.), nochmal Altano (6.) und Wasir, der vor vier Jahren einen elften Platz belegte. Ein in Deutschland trainiertes Pferd hat also noch nicht gewonnen, es stehen allerdings drei Pferde mit enger Beziehung zu unserer Zucht in der Siegerliste, die sich in einer seltsamen Aufwallung deutscher Blutströme auf die Jahre 2011 bis 2013 konzentrierten. Zunächst gewann 2011 mit Fame and Glory ein Enkel der deutschen 1000 Guineas-Siegerin Grimpola aus dem Gestüt Auenquelle, 2012 siegte mit Colour Vision ein Sohn der vom Gestüt Karlshof gezogenen Monsun-Tochter Give me Five, und schließlich konnte sich ein Jahr danach die Queen über den Sieg von Estimate freuen, die ebenfalls Monsun zum Vater hat.

 

Deutscher Galopp

Die neue Marke Deutscher Galopp (ehemals GERMAN RACING) bildet die große Dachmarke, unter der spannende Pferderennen und stimmungsvolle Veranstaltungen auf den deutschen Rennbahnen stattfinden. Gleichzeitig fungiert die Marke als Oberbegriff für den Galopprennsport in Deutschland.

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