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Blog: Chefhandicapper Harald Siemen

Jenseits der Puddingprobe

28. April 2021

Die Welt ist ja immer auf der Suche nach neuen Erkenntnissen. Über AstraZeneca zum Beispiel gibt es täglich neue Nachrichten und Erich von Däneken hat sogar ein ganzes Buch mit dem Titel „Neue Erkenntnisse“ geschrieben, in dem es – wie man sich bei diesem Autor denken kann – um Beweise für den Besuch von Außerirdischen geht. Auch vom Dr. Busch-Memorial am vorigen Samstag in Krefeld hat man sich weitere Aufklärung über das aktuelle Leistungsvermögen von einigen unserer besten Dreijährigen erhofft. Doch sensationell neue Erkenntnisse hat das Rennen nicht vermitteln können, die alte Ordnung ist erst einmal bestätigt worden. Best of Lips war schon im Vorjahr die Nummer Eins im Jahrgang und Mythico die Nummer zwei, zumindest bei den Hengsten. Und dabei bleibt es vorerst, denn beide machten diese erste wirklich ernsthafte Prüfung für den Dreijährigen-Jahrgang unter sich aus. Dass Mythico diesmal deutlich näher bei Best of Lips war als noch im Preis des Winterfavoriten, mag an dem Konditionsvorteil liegen, den der Adlerflug-Sohn sich bei seinem verunglückten Ausflug zum Prix Noailles 13 Tage zuvor geholt hatte. Wir glauben daher nicht, dass Mythico seine Marke von 92 kg aus dem Vorjahr verbessert hat, sondern dass Best of Lips noch nicht im Vollbesitz seiner Mittel gewesen ist, was denn auch in den 93 kg (Rating 106) zum Ausdruck kommt, die wir ihm für den Sieg zubilligen wollen. Für einen Sieger dieses Rennens ist das nicht viel, der Zehn-Jahres-Durchschnitt liegt bei 94,5 kg. Die höchste Marke für einen Sieg im Busch-Memorial erhielt – nebenbei gesagt – Chopin nach seinem 8-Längen-Sieg im Jahr 2013. Er wurde danach sogar in das Epsom Derby gesteckt, das er 3 ½ Längen hinter dem Sieger als Siebter beendete.

Nächste Station für einen Busch-Memorial-Sieger ist üblicherweise das klassische Mehl-Mülhens-Rennen. Das Busch-Memorial, das den Namen von Dr. Max Busch trägt, der von 1950-58 Präsident des Rennvereins war und dazu ein bekannter Chirurg und Chefarzt eines Krefelder Klinikums, gibt es seit 1951. Von den 65 siegreichen Hengsten (fünf Mal gewann eine Stute) sind 52 anschließend im Mehl-Mülhens-Rennen gelaufen, bzw. in dessen Vorgänger, dem Henckel-Rennen. Auch Dragon Lips, der Busch-Memorial-Sieger von 2017, der die gleichen Farben trug wie diesmal Best of Lips und der mit Andreas Suborics auch denselben Trainer hatte, ging diesen Weg, wurde in Köln aber nur Vierter. Für Best of Lips dagegen scheint das weitere Management noch nicht festzustehen, neben dem Mehl-Mülhens-Rennen ist er in den nächsten Wochen im Derby-Trial in Hoppegarten und in den französischen 2000 Guineas engagiert, später auch im Französischen und im Deutschen Derby. Von den 42 Busch-Memorial-Sieger, die im Deutschen Derby an den Start gingen, kehrten vier als Sieger zurück: Neckar, Lagunas, Samum und Next Desert. Nach 2011 ist allerdings nur noch ein Krefelder Sieger auch im Derby gelaufen: Lucky Lion, der 2014 hinter Sea The Moon Zweiter wurde. Auch ein Zeichen einer immer häufiger zu beobachtenden Spezialisierung auf Distanzen, was man in dieser Form früher nicht gekannt hatte.

* * *

Guido Göbel, der von mir sehr geschätzte Redakteur der „Sport-Welt“, hat in der vorigen Woche über den Umstand Klage geführt, dass Pferde mit ausländischer Handicapmarke ohne Umschweife Zugang zum deutschen Handicapsystem haben. Mich wundert etwas der Zeitpunkt der Kritik, denn immerhin besteht diese Möglichkeit schon seit sieben Jahren und der deutsche Rennsport hat, soweit ich weiß, dadurch keinen größeren Schaden genommen. Allein seit 2018 haben 448 Pferde in 420 Rennen mit ihrer ausländischen Handicapmarke in einem Ausgleichsrennen debütiert. 35 davon haben auf Anhieb gewonnen, was einer Erfolgsrate von 8,3 Prozent entspricht. Da sie aber 9,7 Prozent der Starter stellten, haben sie also etwas weniger gewonnen als rechnerisch zu erwarten war. Trotzdem darf angesichts dieser Zahlen wohl gesagt werden, dass die „Integration“ dieser Pferde doch einigermaßen gelungen und jedenfalls nicht zu Lasten derjenigen Pferde ausgefallen ist, die sich ihre Handicapmarke auf dem üblichen Weg durch Starts in Deutschland geholt haben. Das Bild verändert sich auch nicht, wenn man zusätzlich noch die zweiten und dritten Plätze hinzunimmt. Auch in diesem Fall bleibt die Erfolgquote bei 8,3 Prozent. Die meisten Handicapdebütanten kommen dabei aus Frankreich (37 %) und England (35 %) und aus Osteuropa (21 %).
Die Abkehr vom Grundsatz, dass jedes Pferd entweder einmal in Deutschland gesiegt oder drei Mal gelaufen sein muss um an eine Handicapmarke zu kommen, hatte vor allem zwei Gründe. Zum einen sollte durch den Wegfall der Ochsentour über die (wenigen) kleinen Altersgewichtsrennen ein stärkerer Anreiz zum Import des unter Startermangel leidenden deutschen Rennsports gegeben werden; zum anderen sollte dadurch die Rückkehr der vielen in Deutschland trainierten Pferde in das deutsche Rennsystem erleichtert werden, die bis dahin ausschließlich in Frankreich gelaufen waren.
Wenn nun in der „Sport-Welt“ gesagt wird, diese Pferde seien nur sehr schwer exakt einzuschätzen und „der Wetter“ wisse mit diesen Startern in der Regel „überhaupt nichts anzufangen“, so ist das ein Scheinargument, denn dieser Wetter stünde ja vor dem gleichen Problem, wenn das Pferd statt in einem Handicaprennen in einem Altersgewichtsrennen liefe. Im Übrigen kann kaum je ein Pferd in seinem Leistungsvermögen „exakt“ eingeschätzt werden, vor allem nicht, wenn es erst wenige Male oder sogar erst einmal gelaufen ist und dabei gesiegt hat. Es wird immer bei einer Annäherung an das vermutliche Leistungsvermögen bleiben. Auch wird der Erkenntnisgewinn für den Handicapper durch Starts in den kleinen und häufig sehr heterogen besetzten Altersgewichtsrennen, in denen mangels Alternativen nicht selten eine wilde Mischung von Pferden mit Marken zwischen 90 und 44 Kilo antreten, deutlich überschätzt.
Abschließend soll hier noch einmal das englische Sprichwort von der Puddingprobe („The proof of the pudding is in the eating“) bemüht werden, was sich am besten mit „Probieren geht über Studieren“ übersetzen läßt. Mit dieser Methode haben wir Handicapper vor Jahr und Tag einmal angefangen, als die ersten Pferde mit französischem Valeur oder internationalen Ratings in den deutschen Rennen auftauchten. Nach der Erfahrung aus inzwischen mehr als Tausend Starts kann das Übersetzen der meisten ausländischen Marken in ein deutsches GAG aber inzwischen als altbewährt bezeichnet werden, was besonders für Ratings aus Frankreich oder England/Irland gilt, also für die ganz überwiegende Mehrzahl der Fälle. Ich will allerdings nicht verhehlen, dass es daran in der Vergangenheit gelegentlich auch Kritik gegeben hat, die vor allem darauf zielt, dass es nicht im Sinne der deutschen Vollblutzucht sein kann, Billigimporte aus angelsächsischen Ländern zu fördern. Aber das ist ein anderes Thema.

 

Deutscher Galopp

Die neue Marke Deutscher Galopp (ehemals GERMAN RACING) bildet die große Dachmarke, unter der spannende Pferderennen und stimmungsvolle Veranstaltungen auf den deutschen Rennbahnen stattfinden. Gleichzeitig fungiert die Marke als Oberbegriff für den Galopprennsport in Deutschland.

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