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Blog: Chefhandicapper Harald Siemen

Historische Momente

2. Juni 2021

Zu den Lebensweisheiten, die der vor mehr als 30 Jahren verstorbene „Timeform“-Gründer, Publizist und Philosoph Phil Bull hinterlassen hat, zählt auch der Spruch: „Im Vergleich zum Leben im Allgemeinen ist der Rennsport eine große Trivialität“. Nur ein Flohzirkus und kein Opernhaus, sozusagen. Trotzdem gibt es manchmal Geschehnisse, die im wirklichen Leben kaum zur Kenntnis genommen werden, in der trivialen Welt des Rennsports aber geradezu das Ausmaß historischer Ereignisse annehmen.

Am vorigen Sonntag in Düsseldorf konnten die wenigen Besucher auf der Bahn und die vielen vor den Bildschirmen so etwas erleben. Wobei vor allem die Tatsache gemeint ist, dass Sibylle Vogt ein klassisches Rennen gewonnen hat – als erste Frau in einem der fünf großen europäischen Rennsportländer. Heute ist das noch ein Ereignis, aber mit zunehmendem Erfolg und Einfluss von Frauen auf allen Gebieten des täglichen Lebens und somit auch im Rennsport wird sich die Gender-Frage eines Tages von selbst erledigen. Und vielleicht ist auch der Tag nicht mehr fern, wenn in den Rennprogrammen statt „Fr.S.Vogt“ ganz einfach „Sibylle Vogt“ zu lesen sein wird.

Neben diesem historischen Vorgang ereigneten sich aber noch andere, wundersame Dinge in Düsseldorf. Vor allem die siebeneinhalb Längen, die Novemba in den Wempe 1000 Guineas von ihren Gegnerinnen trennten, sind da zu nennen. Mehr als hundert Jahre gibt es dieses Rennen schon und nur einer Stute ist es in dieser langen Zeit gelungen, einen größeren Vorsprung herauszuarbeiten. Das war Mi Emma, die im Jahre 2007 mit neun Längen gegen Mystic Lips gewann. Davor gab es Adita und Liebeslied, die mit sieben Längen siegten, dann Schwarzgold und Contessa Maddalena, Wunderstuten beide, deren Vorsprung sechs Längen betrug. All das muss man sich vor Augen halten, wenn man die Leistung von Novemba einordnen will, eine Leistung, die um so stärker wirkt, als sie aus heiterem Himmel kam. Niemand konnte mit einer solchen Vorstellung rechnen, auch der Handicapper nicht, obwohl Novemba – das soll hier doch noch einmal erwähnt werden – mit dem höchsten Rating aller Teilnehmerinnen ins Rennen gegangen war. Durch ihr blasses Jahresdebüt war sie etwas aus dem Fokus geraten und auch der Stalljockey hatte sich für ein anderes Pferd entschieden. Dadurch kam Sibylle Vogt aufs Pferd, ein Glücksfall. Man muss sich fragen, woher die junge Schweizerin die Courage nahm, an der Spitze ein derart tollkühnes Tempo anzuschlagen. Dabei dosierte sie die Pace so meisterhaft, dass es, erstens, dem eigenen Pferd nicht zum Schaden geriet und, zweitens, die Gegner schon vor Erreichen der Zielgeraden erledigte. Sie blieb während des Rennens so fokussiert, dass sie erst im Ziel einen Blick nach hinten wagte und dabei – ihren eigenen Worten nach – erschrak, weil ihr angesichts des großen Abstandes der Gedanke kam, es könne etwas passiert sein, ein Fehlstart oder so, und man könne ihr das Rennen wieder wegnehmen.

Wie ist dieser Sieg nun einzuordnen? Ein deutsches Gruppe II-Rennen für Stuten – für gewöhnlich wird das in der großen Rennsportwelt nicht übermäßig ernst genommen. „Rate horses, not races“ heißt aber ein Grundsatz für den Handicapper, was so viel heißt, dass die Pferde, nicht die Rennen zu bewerten sind. Schaut man sich die hinter Novemba auf den Plätzen zwei bis sieben eingekommenen Stuten an, dann stellt man fest, dass diese ziemlich genau ihre zuvor gezeigten Leistungen eingestellt haben. Es kann auch keine Rede davon sein, dass das Rennen durch taktische Manöver „gestohlen“ worden ist und es war eine Perüfung auf Herz und Nieren in einer Zeit, die nur geringfügig über dem Rennrekord von Crimplene aus dem Jahre 2000 lag – Crimplene, die anschließend in England drei Gruppe-I-Rennen gewann.

All diese Tatsachen ergeben ein solides Fundament für die Rechnung des Ausgleichers. Die Zweitplatzierte Sky Angel hatte vorher zweimal 91 kg gezeigt, und es gibt keinen Grund für die Annahme, dass es diesmal anders war. Für die siebeneinhalb Längen rechnen wir konservative sechseinhalb Kilo, so dass Novemba auf 97,5 kg (Rating 115) kommt, eine Marke, die seinerzeit auch Mi Emma erhalten hatte. Novemba ist damit aktuell die dreijährige Stute mit der höchsten Handicapmarke in Europa, deutlich vor der den Guineas-Siegerinnen aus Frankreich (Coersamba, 113), England (Mother Earth, 111) und Irland (Empress Josephine, 109). Ob sie diese exponierte Stellung lange halten kann, hängt auch von den weiteren Plänen ab. Mi Emma ging seinerzeit nach Royal Ascot in die G1-Coronation Stakes und wurde Zweite. Das wird mit Novemba nicht möglich sein, denn zwischen beiden Rennen liegen in diesem Jahr nur 19 Tage.

 

* * *

Nahezu Historisches ereignete sich auch im G2-Aengevelt Immobilien-Preis, der aus Iffezheim übernommenen Badener Meile. Jin Jin gewann erneut und ist jetzt nach sieben Starts immer noch ungeschlagen. Ich gehe jetzt 54 Jahre auf die Rennbahn und mir ist kein deutsches Pferd mit einer solch eindrucksvollen Bilanz in Erinnerung. Gewiß – es gab Pferde mit langen Siegesserien wie Acatenango, der 12 Rennen nacheinander gewann, oder Quijano, der es auf zehn Siege in Folge brachte. Als neunfacher Seriensieger ist mir auch ein Schlenderhaner namens Shepard Im Gedächtnis geblieben. Aber alle hatten doch Niederlagen einstecken müssen, bevor sie ihre Siegesserie starteten. So wird wohl Bandit das letzte Pferd vor Jin Jin gewesen sein, das sieben Starts ungeschlagen überstanden hat. Seine erste und dann auch gründliche Niederlage erlitt er im Derby 1966, in dem er als Elfter einkam. Ähnlich war es zehn Jahre vorher Liebeslied ergangen, die nach sieben Siegen im Derby nur als Zwölfte endete. Das am längsten ungeschlagene deutsche Rennpferd – auch das soll hier noch gesagt sein – war Birkhahn, der bei seinen ersten 12 Starts keinen Bezwinger fand.

Man muss also den Hut ziehen vor Jin Jin, die immerhin schon fünf Jahre alt ist, bisher also nur sehr sparsam eingesetzt wurde. Wie Novemba dominierte sie vom Start bis ins Ziel, hatte zweieinhalb Längen Vorprung gegen recht starke Gegner. Schon im vorigen Oktober konnte sie mit dem G3-Prix Perth in Saint-Cloud ihr erstes Grupperennen gewinnen, was ihr ein Rating von 111 (95,5 kg) einbrachte. Diese Marke stellte sie jetzt bei ihrem Sieg gegen die französischen Stuten Alpen Rose und Galova wieder ein. Ihr Trainer sagt, dass ein Gruppe I-Rennen für dreijährige und ältere Stuten über 1600 Meter in Deauville das große Ziel ist. Dabei handelt es sich um den Prix Rothschild (früher d´Astarté) am 2. August, ein Rennen, das die große Goldikova gleich vier Mal gewonnen hat.

 

Deutscher Galopp

Die neue Marke Deutscher Galopp (ehemals GERMAN RACING) bildet die große Dachmarke, unter der spannende Pferderennen und stimmungsvolle Veranstaltungen auf den deutschen Rennbahnen stattfinden. Gleichzeitig fungiert die Marke als Oberbegriff für den Galopprennsport in Deutschland.

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