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Blog: Chefhandicapper Harald Siemen

Gänsehaut und Aberglaube

16. Juni 2021

Eine gerissene Hose, vergessene Requisiten und beim Abgang durch die Bühnentür hält man die Klinke in der Hand. Das sind typische Patzer bei einer Generalprobe, die aber angeblich Glück bringen und auf eine erfolgreiche Premiere hoffen lassen. Dieser Aberglaube hält sich hartnäckig auf den Bühnen dieser Welt.

Wie auch die eiserne Regel, nur vom „schottischen Stück“ zu sprechen, wenn „Macbeth“ auf dem Spielplan steht. Und „danke“ sagen wäre beim Theater ein Kündigungsgrund. Auch beim Galoppsport ist der Aberglaube weit verbreitet. Wer vor dem Rennen „viel Glück“ wünscht, hat auf einer Rennbahn nichts zu suchen, und ein Kleidungsstück, das man anläßlich eines großen Sieges getragen hat, darf nicht gewaschen, sondern muss beim nächsten Mal im Originalzustand wieder getragen werden.

Rennbahn und Theater haben also viel Gemeinsames, nicht nur den Aberglauben. Auch geprobt wird auf der Rennbahn reichlich, vor allem für die großen klassischen Rennen. Nur die Sache mit der Generalprobe, das sieht man bei den Galoppern etwas anders. Während auf dem Theater bei der letzten Probe Fehler passieren dürfen und sollen, sollte auf der Rennbahn vor großen Rennen doch bitte alles gutgehen. Am besten sollte man so gewinnen wie Best of Lips am vorigen Sonntag in Köln bei seinem Sieg im 186. Sparkasse KölnBonn Union-Rennen, denn dann stellt sich die Frage, wer dieses Pferd beim Derby eigentlich schlagen soll. Doch bei den Siegern könnte sich neben Stolz und Freude über die Leistung des Pferdes vielleicht auch ein etwas mulmiges Gefühl in der Magengegend bemerkbar machen. Ist das Pferd nicht zu früh auf dem Höhepunkt seines Könnens? Kann die Form in den folgenden Wochen gehalten werden?

Es war einer jener seltenen Gänsehautmomente, als der Reiter von Best of Lips seinem Pferd 250 Meter vor dem Ziel eine Frage stellte und eine Antwort bekam, die verblüffen musste. Mit enormer Beschleunigung verabschiedete sich der vorjährige Winterfavorit von dem bis dahin führenden Sky Out und holte bis ins Ziel 4 ¾ Längen heraus. Eine beeindruckende Vorstellung. Das Union-Rennen wird nur selten mit so großem Vorsprung gewonnen. Wenn wir uns auf die Zeit beschränken, in der das Rennen in Köln-Weidenpesch gelaufen wird, seit 1947 also, dann ist Vergleichbares nur Baalim, Surumu und Next Desert mit vier, Limbo und Novellist mit fünf und Turfkönig mit sechs Längen Vorsprung gelungen. Klassepferde, allesamt – aber nur drei davon siegten anschließend auch in Hamburg, nämlich die drei Erstgenannten. Novellist kam (hinter Pastorius) auf Platz zwei, Limbo und Turfkönig wurden Dritte. Allein das zeigt, dass auch Klassepferde im Derby scheitern können. Gründe dafür kann es viele geben. Unpassender Boden und nicht ausreichendes Stehvermögen sollten als Gründe für ein Scheitern bei Best of Lips ausscheiden. Pech beim Rennverlauf ist nicht vorhersehbar. Bleibt nur noch ein an diesem Tag übermächtiger Gegner. Der müsste sich allerdings noch zu erkennen geben, denn bisher hat man unter den potenziellen Gegnern von Best of Lips zwar etliche Talente gesehen, aber mehr noch nicht. (Mythico ausgenommen, aber der gilt ja als fraglicher Starter.)

Es ist überhaupt bemerkenswert, wie wenig Veränderung es in der Hierarchie bei den dreijährigen Hengsten in den letzten Monaten gegeben hat. Best of Lips und Mythico waren schon zweijährig die Spitzenpferde ihres Jahrgangs und sie stehen mit Marken von 96 bzw. 95 kg immer noch ganz oben. Auf mögliche Derbystarter beschränkt, folgt dahinter eine Gruppe von zwölf Pferden, die alle zwischen 92,5 kg und 90 kg stehen. Der eine oder andere dürfte am kommenden Sonntag nach den Rennen in Hannover und Chantilly noch dazu kommen. Alles in allem sollte das eine Garantie für ein spannendes und hochklassiges Derby sein.

Durch Sky Out wurde die Union ein flott gelaufenes Rennen, auf schnellem Geläuf kam mit 2:14,18 Minuten eine Zeit heraus, die in der 187 Jahre alten Geschichte des Rennen nur fünf Mal unterboten wurde. Den Rekord hält Kornado mit 2:13,0 Minuten aus dem Jahre 1993. Für die Rechnung haben wir Dolcetto auf seine alte Marke von 91,5 kg gesetzt. Virginia Storm kommt als Fünfter zum dritten Mal in Folge auf 90 kg, so dass die sich daraus ergebende Marke von 96 kg für Best of Lips auf einer soliden Grundlage stehen sollte. Für die Union ist das eine überdurchschnittliche Marke. Das höchste Rating für einen Sieg im diesem Rennen hat bisher Novellist mit 97 kg erhalten, Lavirco, Ivanhowe und Sea The Moon kamen auf 96,5 kg.

 
 

Aktuelle GAG-Marken von im Derby genannten Pferden 14.06.2021

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1 Best of Lips 96
2 Mythico 95
3 Sampras 92,5
4 Lambo 92
5 Sea of Sands 92
6 Dolcetto 91,5
7 Sky out 91,5
8 Alter Adler 91,5
9 Martial Eagle 91,5
10 Sassoon 91
11 Sun of Gold 90,5
12 Aff un zo 90,5
13 Virginia Storm 90
14 Vallando 90
15 Wiesentau 89,5
16 Santorini 89
17 Sisfahan 89
18 Sir Vulcano 88,5
19 Diamantis 88
20 Elegant Maximus 88
21 Sporting 88
 

* * *

Gestern hat Royal Ascot wieder angefangen, also jenes fünf Tage währendes Spektakel, das der Mittelpunkt der sogenannten englischen „Social Season“ ist, zu der auch das Bootsrennen zwischen den Universitäten von Oxford und Cambridge, die Chelsea Flower Show, das Derby von Epsom, das Tennisturnier von Wimbledon und die Henley Ruder- Regatta zählen. Nachdem im Vorjahr die sportlichen Wettkämpfe ohne Zuschauer in bedrückender Stille vor sich gingen, waren Besucher diesmal wieder zugelassen, limitiert auf 12.000. In der „Royal Enclosure“ die Herren wie üblich in morning suit und Zylinder, die Damen in vollem Ornat, draußen im Zuschauerbereich keine Maskenpflicht. Bei mir war „Royal Ascot at Home“: ITV-Programm an, vor mir eine Schale Erdbeeren mit Schlagsahne und ein Apérol Spritz. Das erste Rennen, die Queen Anne Stakes, benannt nach der beliebten Königin, der es 1711 in den Sinn kam, auf ihrer Besitzung Ascot ein Pferderennen zu veranstalten, brachte gleich einen der großen Stars des Sports an den Start, den vierjährigen Weltranglistenersten Palace Pier. Die ohnehin kargen Wettangebote für ihn gingen noch weiter in den Keller, als eine 200.000 Pfund-Schiebewette auf Battash bekannt wurde. Palace Pier gewann, wenn auch ohne sprühende Funken zu schlagen. Alle freuten sich, auch der mutige Schiebewetter, mit dessen guter Laune es aber wohl schnell vorbei war, als Battash eine Stunde später in den King´s Stand Stakes nur Vierter wurde. „Eyecatcher“ des Tages aber war der Sieg von Poetic Flare, dessen 4 ¼-Längen-Sieg in den G1-St James´s Palace Stakes sehr an Best of Lips Union-Sieg erinnerte, nur auf einer Etage höher eben. Trainer Jim Bolger (79), der „irische Tesio“, startete seinen von ihm selbst gezogenen englischen 2000 Guineas-Sieger zum vierten Mal innerhalb von nur 6 Wochen in einem Gruppe I-Rennen und zeigte damit, dass auch Spitzenpferde nicht zwangsläufig Schaden nehmen, wenn sie häufiger als heute allgemein üblich gestartet werden.

Pferde aus Deutschland greifen erst ab Donnerstag in die Ereignisse ein. Die Aufgabe, die Rip Van Lips im Gold Cup zu lösen hat, ist ungefähr so schwer, wie für mich der Beweis der Poincaré-Vermutung. Besser sieht es am Freitag für Novemba aus. Ihre Besitzer haben meine Vermutung widerlegt und ihre großartige Düsseldorfer Siegerin für die G1-Coronation Stakes nachgenannt. Am Samstag kommt dann noch Namos in den G1-Diamond Jubilee Stakes über 1200 Meter an den Ablauf.

 

Deutscher Galopp

Die neue Marke Deutscher Galopp (ehemals GERMAN RACING) bildet die große Dachmarke, unter der spannende Pferderennen und stimmungsvolle Veranstaltungen auf den deutschen Rennbahnen stattfinden. Gleichzeitig fungiert die Marke als Oberbegriff für den Galopprennsport in Deutschland.

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