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Blog: Chefhandicapper Harald Siemen

Etwas über Pace und Speed

5. Mai 2021

Der aufgrund seiner herausragenden Erfolge auch als „Hexer von Dormello“ bekannt gewordene italienische Züchter, Besitzer, Trainer und Politiker Federico Alessandro Bartolomeo Giuseppe Tesio (1869-1954) hat sich in seinem Buch „Vollblut – ein Tier zum Experimentieren“ auch einmal grundsätzlich über das Tempo beim Pferderennen geäußert. Nach der alltäglichen Feststellung, dass Sieger eines Rennens immer dasjenige Pferd sein wird, das die Distanz in der kürzesten Zeit zurücklegt, heißt es weiter: „Ein Jockey kann sein Pferd nicht zwingen, eine gegebene Distanz in kürzerer Zeit zurückzulegen, als es die natürliche Leistungsfähigkeit des Pferdes erlaubt. Er kann es jedoch zwingen, langsamer zu laufen“. Das klingt trivial und doch kommt dieser Binsenweisheit eine größere Bedeutung zu, als man meinen möchte. Denn an nahezu jedem Renntag wird man Zeuge eines Bummelrennens. Manche nennen das Taktik. Eine Taktik allerdings mit oft überraschendem Ausgang, so wie am Samstag beim pferdewetten.de-Bavarian Classic auf der Rennbahn in München-Riem.

Das Tempo, das mit dem Favoriten Sea of Sands an der Spitze angeschlagen wurde, war so mäßig, dass am Ende mit 2:16,57 Minuten die langsamste Zeit herauskam, seit das Rennen über die 2000-Meter-Strecke gelaufen wird, also seit 1998. Ich bekomme bei derartigen Rennverläufen, die meistens mit einem Sprint die Zielgerade herunter enden, immer ein ungutes Gefühl. Zwar ist der beste Platz in einem langsamen Rennen derjenige an erster oder zweiter Stelle, das nutzt aber wenig, wenn die dort galoppierenden Pferde keinen Speed haben. In seiner rennsportlichen Anwendung wird in Deutschland unter Speed die Fähigkeit eines Pferdes verstanden, aus einem langsamen Tempo plötzlich auf äußerste Schnelligkeit überzugehen. Die Engländer nennen es eher „turn of foot“. Mit dieser Gottesgabe war im Bavarian Classic der Sieger Lambo weitaus am besten ausgestattet, wie das ja auch schon bei seinem Vater Protectionist der Fall war. Unvergessen der Große Preis von Berlin 2016, als Eduardo Pedroza in Führung liegend Protectionist innerhalb von Sekunden von gemächlichen 53,5 km/h auf 65,7 km/h beschleunigte, wobei das die Durchnittsgeschwindigkeit zwischen der 600- und der 200-Meter-Marke war. Was die Zeitmessung angeht, so ist der deutsche Rennsport ja Lichtjahre vom internationalen Standard entfernt. Eine Ausnahme bildet lediglich Hoppegarten, das dank seines Sponsors Longines über eine moderne Zeitmessanlage verfügt.

Warum das Rennen mit Sea of Sands so verhalten angegangen wurde, ist nicht bekannt. Ein schärferes Tempo hätte möglicherweise zu einem für ihn besseren Resultat geführt, denn an seinem Stehvermögen kann angesichts seiner Abstammung kein Zweifel bestehen. „It´s the pace that kills“ sagt der Engländer, wobei er den gedachten Zusatz „and not the distance“ als selbstverständlich wegläßt. Der Prüfungswert solch langsamer Rennen (sogar das Rennen für die sieglosen Dreijährigen war mehr als zwei Sekunden schneller) ist immer fraglich, so dass man als Handicapper gut daran tut, nicht gleich alles auf den Kopf zu stellen. Nicht zu rütteln ist allerdings an der Feststellung, dass Lambo an diesem Samstag eindeutig das beste Pferd war, und hätte sein Reiter ihn zuletzt nicht noch verhalten, so wäre der Sieg noch deutlicher ausgefallen. Aufgrund der geschilderten Umstände gehen wir aber erst einmal vorsichtig zu Werke und berechnen dieses Bavarian Classic über die 90 Kilo, mit denen der Zweitplatzierte Virginia Storm ins Rennen gegangen ist. Lambo kommt danach auf 92 Kg (Rating 104), Sea of Sands auf 88,5 kg, den wir aber erst einmal auf seinen 92 kg stehen lassen. Die Zukunft wird zeigen, was von diesem Rennen zu halten ist.
Überhaupt ist die Lage bei den Dreijährigen derzeit recht unübersichtlich, im Wochenrhytmus bieten die Buchmacher neue Derbyfavoriten an. Auch Lambo gehört jetzt zu dem etwas mehr als halben Dutzend, das zu Kursen zwischen 10:1 und 15:1 angeboten wird. Vor Hamburg wird man ihn in Deutschland wohl kaum wiedersehen, auch in Frankreich hat er derzeit keine Nennungen. Ein in Frage kommendes Rennen mit noch offenem Nennungschluss wäre für ihn der zur Gruppe II zählende Prix Hocquart am 24. Mai in Longchamp.

* * *

Obwohl der Prix Ganay schon seit 1889 gelaufen wird, haben deutsche Ställe dieses Rennen erst relativ spät in ihre Planungen aufgenommen. Kornado war 1994 der erste Starter, er wurde Siebter. Seitdem sind elf weitere Pferde aus Deutschland im Prix Ganay an den Start gekommen. Pastorius hat 2013 gewonnen (in Begleitung seines Pacemakers Point Blank), Que Belle und Saddex kamen auf Platz zwei, Adlerflug wurde Dritter, Wild Chief Vierter. Nun ist Mare Australis, der Prix Ganay-Sieger vom letzten Sonntag, im renntechnischen Sinne kein deutsches Pferd, da er seit Beginn des Jahres 2020 von André Fabre in Chantilly trainiert wird. Er ist aber ein Original-Schlenderhaner und da wollen wir es damit nicht so genau nehmen. Der Stil seines Start-Ziel errungenen Erfolges war beeindruckend und brachte ihn auch sofort als ernsthaften Kandidaten für den Prix de l´Arc de Triomphe ins Gespäch. Immerhin haben mit Sottsass und Waldgeist zuletzt zwei Ganay-Sieger am Jahresende auch den Arc gewonnen.

Wenn ich keinen übersehen habe, dann ist Mare Australis der fünfte Schlenderhaner (zu denen auch die Ullmann-Pferde zu zählen sind), der außerhalb von Deutschland und Italien und Gruppe I-Rennen gewonnen hat. Seine Vorgänger waren Priamos (Prix Jacques le Marois 1970), Shirocco (Breeders´ Cup Turf, Coronation Cup), Almandin (Melbourne Cup) und Ivanhowe (Dombem Cup, Ranvet Stakes). Mare Australis galt schon früh als Nummer Eins unter den Schlenderhaner Dreijährigen, was man auch daran erkennen konnte, dass er bei
der Auflösung des Schlenderhaner Rennstalles Ende 2019 Ándré Fabre zugeteilt wurde, während In Swoop eine Box bei Francis Henri Graffard bezog. Durch den Sieg im Deutschen Derby und zweite Plätze im Grand Prix de Paris und Prix de l´Arc de Triomphe hat In Swoop seinen Zuchtgefährten im Vorjahr aber rasch überholt, der deutlich länger brauchte um erwachsen zu werden. In der Gunst der Handicapper liegt In Swoop mit einem Rating von 123 (101,5 kg) immer noch vorne, Mare Australis hat aber stark aufgeholt und steht jetzt bei 119 (99,5 kg). Er soll weiter in Ruhe auf den Prix de l´Arc de Triomphe vorbereitet werden, sein Trainer schließt sogar nicht aus, ihm nur noch ein Aufbaurennen zu geben.
Miramare, die Mutter von Mare Australis, ist vielen sicher noch in Erinnerung durch ihre Eskapaden vor dem Start zum Henkel Preis der Diana 2007, die klare Favoritin war damals nicht zum Bezug ihrer Startbox zu bewegen. Sie kam später in England und Irland noch zu Platzierungen in Listenrennen, im Gestüt enttäuschte sie zunächst. Ein Zufall wollte es, dass am Tag vor Mare Australis´ Triumph in Longchamp sein naher Verwandter Tribhuvan am Derbytag in Kentucky die zur Gruppe II zählenden Fort Marcy Stakes gewann. Beider Großmutter ist die Platini-Tochter Minaccia, die letzte Stute, die das Dr. Busch-Memorial gewinnen konnte. Es handelt sich hier um die Familie von Monsun und Majorität. Mare Australis ist das letzte von sechs Fohlen der Miramare. Nachdem 2018 ein Stutfohlen von Camelot bei der Geburt eingegangen ist, wurde sie zwei Jahre lang nicht gedeckt und wird jetzt nicht mehr zur Zucht benutzt. Die Datenbank von Deutscher Galopp vermeldet unter dem 24. Februar 2021 den Verkauf der 17 Jahre alten Stute an Johanna und Volker Klein aus Wuppertal.

 

Deutscher Galopp

Die neue Marke Deutscher Galopp (ehemals GERMAN RACING) bildet die große Dachmarke, unter der spannende Pferderennen und stimmungsvolle Veranstaltungen auf den deutschen Rennbahnen stattfinden. Gleichzeitig fungiert die Marke als Oberbegriff für den Galopprennsport in Deutschland.

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