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Blog: Chefhandicapper Harald Siemen

Die Hoffnungsvernichter-Maschine

7. Juli 2021

Man spricht ja so viel und so oft von der „glorreichen Ungewissheit“ des Turfs, und man hat recht damit. Dennoch gibt es im Rennsport eine Sicherheit, eine alljährlich wiederkehrende Gewissheit, und das sind – die Enttäuschungen. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, das Leben eines Besitzers oder einer Besitzerin bestehe zum größten Teil aus Hoffnungen und deren Vernichtung.

Die Hoffnung fängt häufig schon früh an, wenn die Mutterstute nach dem mit viel Überlegung ausgewählten und mit teurem Geld bezahlten Hengst tragend ist, und sie steigert sich, wenn als Resultat ein gesundes und kräftiges Fohlen zur Welt kommt. Dann kommt der Jährling in Training und nach den ersten schärferen Galopps im folgenden Frühjahr heißt es, der Hengst mache sich gut und es könne etwas aus ihm werden. „Endlich ein Derbypferd!“, denkt der Besitzer. Und tatsächlich, es wird etwas aus ihm. Er gewinnt ein Sieglosenrennen, dann ein Listen- oder sogar ein Grupperennen und sein Name taucht im vorderen Bereich der Wettmärkte auf. Jetzt darf bloß nichts mehr passieren, denkt der Besitzer in den letzten Wochen vor dem Derby und schrickt jedes Mal auf, wenn das Telefon geht. Doch alles geht gut. Nur im Rennen nicht. Unplatziert. Der Besitzer sieht den Trainer fragend an, der zuckt nur mit den Schultern: „Kann vielleicht nicht stehen“ sagt er, und: „Wir müssen ihn mal gründlich durchchecken.“

Das Derby ist die größte Hoffnungsvernichter-Maschine überhaupt. Ich habe am Sonntag in Hamburg-Horn einen Züchter und Besitzer gesehen, der unmittelbar nach dem Derby langsamen Schrittes von der Bahn ging, die Enttäuschung stand ihm im Gesicht geschrieben. Er hatte nicht nur ein Pferd im Derby, sondern gleich drei, eines davon sogar mit der Nummer eins auf der Satteldecke. Am weitestens von ihnen kam Sun of Gold, er wurde Elfter. Dagegen, auf der anderen Seite der Emotionsskala: Die Sieger in ihrem Glück, das Siegerpferd erst sieben Wochen vorher gekauft. Die Zeit hätte vielleicht nicht einmal für eine Namensänderung gereicht, wie das bei Pferden von Darius Racing üblich ist, aber der Name Sisfahan, der keinerlei Bedeutung hat, klingt ja auch so persisch genug.

Einen Sieger wie Sisfahan hätte man ahnen können in diesem IDEE 152. Deutschen Derby, das so offen war, oder vorsichtiger gesagt, so offen erschien, wie kaum eines zuvor. Stellte man die in diesen Tagen obligatorische Frage „Wer gewinnt das Derby?“, so bekam man mindestens zwölf verschiedene Antworten, häufig mit wenig Überzeugungskraft vorgetragen. Die Ratlosigkeit fand schließlich einen Hafen bei einem Pferd, das zwar in Deutschland trainiert wird, aber vorher ausschließlich in Frankreich gelaufen war, ohne dabei ein wirklich namhaftes Rennen gewonnen zu haben. Alter Adler war der 43:10-Favorit bei den Wettern und hätte auch fast gewonnen, wenn nicht einer noch schneller gewesen wäre. Das war Sisfahan. Einen gehörigen Anteil daran hatte sein Reiter Andrasch Starke, der nun zum achten Male das Derby gewann und damit den Rekord von Gerhard Streit einstellte. Der Zufall will, dass beiden dieses Kunststück innerhalb von 23 Jahren gelang, Streit zwischen 1938 und 1961, Starke war 1998 zum ersten Mal erfolgreich. Ob Starkes Manöver, sein Pferd in der Zielgeraden ganz nach außen zu nehmen und dort den letztlich erfolgreichen Angriff zu starten, entscheidend für den Ausgang war, darf diskutiert werden, wird aber zu keinem Ergebnis führen. Der Reiter von Alter Adler jedenfalls war zuvor im Sattel von Amazing Grace mit der gleichen Taktik noch gescheitert. Trotzdem kamen mir wieder Pik König, Pastorius und Sea The Moon in den Sinn, die auch alle auf der äußersten, schnelleren Boden versprechenden Spur zum Derbysieg galoppiert waren.

Nun zu der für den Handicapper entscheidenden Frage: Was war das Ganze wert? Das bleibende Bild dieses so einwandfrei verlaufenen Derbys war für mich der Moment, als die 20 Pferde in geballter Formation um die letzte Ecke bogen und sich danach wie eine Wand zum Endkampf auffächerten. Wenn aber 15 von diesen 20 in einer Spanne von nur zwei Sekunden durchs Ziel kommen, also auf 10 Längen komprimiert, dann darf man annehmen, dass das nicht alles großartige Rennpferde sein können. Als Handicapper sollte man in solchen Fällen eher vorsichtig zu Werke gehen. So sind wir für die Rechnung von Sky Out ausgegangen. Der war zwar nur Siebter, aber auch nur 5 ¼ Längen hinter dem Sieger, so dass er seine Marke aus dem Union-Rennen (91,5 kg) eingestellt haben dürfte (der Konjunktiv ist die übliche Ausdrucksform des Ausgleichers). Daraus ergibt sich für Sisfahan eine Marke von 96,5 kg. Er zählt damit im Vergleich zu früheren Derbysiegern zwar (noch) nicht zu den Besseren, aber auch In Swoop hat nach dem vorjährigen Derby nicht mehr bekommen, konnte sich bis Jahresende aber bekanntlich auf 101,5 kg steigern. Ähnliches von Sisfahan zu erwarten wäre vermessen, das Ziel wird sein, seine neue Marke im weiteren Verlauf der Saison noch weiter nach oben zu bringen. Die nächste Gelegenheit dazu bietet sich am 7. August beim Longines Großer Preis von Berlin in Hoppegarten.

 

* * *

Natürlich war bei diesem Derby alles anders als vor einem Jahr, als gar keine Besucher zugelassen waren. Tausend zahlende Zuschauer zusätzlich zu den vielleicht tausend, die aus beruflichen Gründen, als Besitzer oder als Vereinsmitglieder dabei waren. Es gab auch doppelt so viel Getränke- und Imbisstände, nämlich zwei, und Masken waren kaum noch zu sehen. Ein Rennen, das man gesehen haben musste, war der Große Hansa-Preis der Unternehmensgruppe Baum am Samstag, in dem Torquator Tasso mit Glanz und Gloria zu alter Stärke zurückfand. Das blasse Jahresdebüt hatte diesbezüglich leise Zweifel aufkommen lassen, aber die Wetter wollten davon nichts wissen und machten den „Galopper des Jahres“ zum klaren Favoriten. Dieses Pferd besitzt ohnehin eine gehörige Portion Charisma und nach seinem beeindruckenden Sieg ist er endgültig auf dem Weg zum Publikumsliebling. Es wird ja immer darüber geredet, dass er den Kopf so hoch hält, wenn er sich ins Zeug legt. Das hat er von seinem Vater Adlerflug, der auch durch diese Eigenart auffiel, vor allem bei seinem 7-Längen-Sieg im Deutschen Derby 2007.

Torquator Tasso hatte bei seinem Sieg am Samstag 4 ½ Längen Vorsprung. Das weckte Erinnerungen an Protectionist und Dschingis Secret, die bei ihren Siegen im Hansa-Preis vor einigen Jahren (jeweils gegen Iquitos) ähnlich dominant waren und sich dadurch beide eine Marke von 100 Kilo sicherten. Ganz so hoch möchte ich den Sieg von Torquator Tasso noch nicht ansiedeln, auch weil ich mir über das aktuelle Leistungsvermögen der hinter ihm platzierten Sunny Queen und Nerium nicht ganz im Klaren bin. 99 Kilo sollten erst einmal ausreichen. Das ist immerhin die höchste Marke für ein in Deutschland trainiertes Pferd seit den Tagen von Iquitos, Dschingis Secret und Guignol.

 

Deutscher Galopp

Die neue Marke Deutscher Galopp (ehemals GERMAN RACING) bildet die große Dachmarke, unter der spannende Pferderennen und stimmungsvolle Veranstaltungen auf den deutschen Rennbahnen stattfinden. Gleichzeitig fungiert die Marke als Oberbegriff für den Galopprennsport in Deutschland.

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