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Blog: Chefhandicapper Harald Siemen

„My Fair Lady“

26. Juni 2019

„Jeder Duke und Earl und Peer ist hier. Jeder, der hierhergehört, ist hier. Einen Riesentrubel so wie diesen, sieht man nur in Ascot beim Galopp“. So singt der Chor in „My Fair Lady“, und zwar in jener Szene, in der Eliza, das Versuchsobjekt des exzentrischen Phonetikers Henry Higgins, bei einem Testlauf in Ascot unter Beweis stellen soll, ob ihr die Verwandlung von der Blumenverkäuferin in eine Dame der ersten Gesellschaft gelungen ist. Was natürlich schiefgeht, denn sie schockiert das Publikum, indem sie ihr Pferd lauthals mit den Worten „Lauf schneller, oder ich streu´ dir Pfeffer in den Arsch“ anfeuert.
So etwas wäre heutzutage undenkbar, jedenfalls beim königlichen Meeting und in der „Royal Enclosure“, also jenem Bereich, für den der Dresscode für die Ladies erlesene Eleganz mit Hut und Kleid, das mindestens das Knie bedeckt, und für den Gentleman das berüchtigte High-End Outfit mit Zylinder und Cutaway vorsieht. Beau Brummel, der britische Dandy, hat dies zu Beginn des 19. Jahrhunderts so postuliert. Für Queen Anne Enclosure, Village- und Windsor Enclosure wird absteigend weniger Förmlichkeit verlangt, aber smart sollte es auch auf dem vierten Platz noch zugehen, dort, wo es nach den Rennen noch Livemusik gibt und vielleicht sogar Bier getrunken wird.

Jeder, der dort hingehört, war also da. Ich nicht. Das heißt nicht, dass ich noch nie in Ascot gewesen bin. Nur eben nicht bei der königlichen Woche. Zum ersten Mal war ich 1976 in Ascot und ich erinnere mich noch gut an den Sieg der großartigen Pawneese in den King George VI. and Queen Elizabeth Diamond Stakes, die in den blauen Farben von Daniel Wildenstein zu einem deutlichen Start-Ziel-Sieg kam. Ich erwähne Pawneese nicht zufällig, denn sie ist die dritte Mutter von Stradivarius, der am vorigen Donnerstag mit seinem zweiten Sieg im Ascot Gold Cup für den sportlichen und emotionalen Höhepunkt der fünf königlichen Renntage sorgte. Seit der großen Ära der Super-Steher mit Sagaro, Ardross und Le Moss Ende der 1970-er Jahre und den Tagen des vierfachen Gold-Cup-Siegers Yeats, hat man so ein Pferd nicht mehr gesehen. Sieben Rennen in Folge hat Stradivarius jetzt gewonnen, jedes Mal gegen die europäische Steherelite und dabei im Vorjahr nebenbei noch die erste Weatherbys Hamilton Stayers Million gewonnen, seinem Besitzer für Siege in Yorkshire Cup, Gold Cup, Goodwood Cup und Lonsdale Cup also einen Bonus von einer Million Pfund eingebracht. Er ist auf gutem Weg, diesen Coup zu wiederholen.

Video: Royal Ascot Highlights 2019

Es gibt eine ausgesprochen enge Verbindung von Stradivarius zum deutschen Rennsport. Seine Mutter Private Life war früher für einige Jahre einmal im Besitz von Dr. Christoph Berglar, für den sie Persian Storm brachte, der in den Farben von Georg von Ullmann Bavarian Classic und Fürstenberg-Rennen gewann und im Derby Sechster war. Dr. Berglar hat diese Stute dann an Björn Nielsen nach England abgegeben, der mit ihr dann den zweifachen Ascot Gold Cup-Sieger gezogen hat. Immerhin hat Berglar aus dieser Linie noch Protectionist (Pawneese ist dessen 4. Mutter), den Melbourne Cup-Sieger, und das ist ja auch was.

Bei seinem Vorjahrssieg hatte Stradivarius ein Rating von 118 (99 kg) erreicht, diesmal wird es auf 120 (100 kg) hinauslaufen, für einen Extremsteher eine sehr gute Marke. Yeats, um noch einmal auf den König der Steher zurückzukommen, bekam für seine Gold Cup-Siege zwischen 2006 und 2009 Ratings von 118, 120 und zweimal 122. Die voraussichtlichen Marken für die beiden anderen herausragenden Sieger der Rennwoche in Ascot: Blue Point steht nach seinen beiden Gruppe-I-Siegen in King´s Stand Stakes und Diamond Jubilee Stakes bei 124 (102 kg), der bemerkenswerte Crystal Ocean wird nach seinem Erfolg in den Prince of Wales´s Stakes mit 127 (103,5 kg) die nächste Nummer eins der Weltrangliste sein.

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Wenn man nicht selbst in Ascot ist, dann muss man nach dem Zweitbesten suchen, und das sind die Liveübertragungen beim britischen Fernsehsender ITV. Die Leute dort sind ganz nah dran am Geschehen, so dass man von den Emotionen, von denen es immer reichlich gibt, einiges mitbekommt. Der Spannungshöhepunkt war erreicht, als Frankie Dettori am Donnerstag beim Sieg mit Stradivarius sein viertes Rennen an diesem Tag gewonnen hatte und nun auf Sieg Nummer fünf zusteuerte. In der mehr als 300 Jahre alten Geschichte von Ascot hatte es erst einen Jockey gegeben, der fünf Siege an einem Tag geschafft hat – Fred Archer im Jahre 1887.

Die Aussichten für Dettori waren nicht die besten, denn das fünfte Rennen waren die Britannia Stakes, ein mit 28 Pferden besetztes Handicap, in dem er mit Turgenev ein Pferd ritt, dass am Vormittag noch mit 16:1 gehandelt wurde. Aber Unmengen an Buchmachergeld, das auf die Bahn geworfen wurde, um die Quote zu drücken, machten den Dettori-Ritt schließlich zum 4,5:1-Favoriten. Vielen Buchmachern drohte die höchste Auszahlung ihrer Unternehmensgeschichte, und als Dettori 200 Meter vor dem Ziel sein Pferd auf zwei Längen vor das Feld schickte, schien das Dach der riesigen Tribüne wegzufliegen und auch ich rückte zu Hause auf die Stuhlkante – bis am Ende dann doch noch einer vorbeikam und die große Party verdarb. Überhaupt die Handicaps bei Royal Ascot, die fast alle verkappte Grupperennen sind: Immer rund 30 Starter, manchmal mehr. Ein Höhepunkt in dieser Hinsicht waren die Sandringham Stakes, für die 28 dreijährige Stuten mit Ratings zwischen 82 kg und 92,5 kg antraten. In die Geschichtsbücher geht dieses Rennen ein, da mit Hayley Turner die zweite Frau nach Gay Kellaway im Jahre 1987 ein Royal Ascot-Rennen gewinnen konnte. Es war ein weiterer und großer Schritt auf dem Weg der Emanzipation der Frauen im Rennsattel und es wird keine weiteren 32 Jahre mehr dauern, bis Hayley Turner oder eine der anderen weiblichen Cracks im Rennsattel wie Holly Doyle, Josephine Gordon oder Nicola Currie beim königlichen Meeting gewinnen.

Deutsche Pferde waren in Ascot nicht dabei, so konnte sich das Interesse ganz auf die Pferde konzentrieren, die kürzlich bei uns die klassischen Prüfungen gewonnen hatten. Mit Fox Champion, Great Scot, Marie´s Diamond, Global Spectrum und Pogo waren der Sieger, der Dritte, der Vierte, der Fünfte und der Siebte aus dem Mehl-Mülhens-Rennen in Ascot dabei. Fox Champion lief nach aufwändigem Rennverlauf in den G1-St. James´s Palace Stakes von der Spitze aus ein achtbares Rennen, war im Ziel knapp fünf Längen zurück Siebter und zeigte dabei eine Leistung von 93,5 Kilo. Die anderen aus dem Mehl-Mülhens-Rennen spielten in ihren jeweiligen Rennen keine Rolle. Das gilt auch für Main Edition. Für die Siegerin der German 1000 Guineas hatte ihr Trainer mit den G1-Coronation Stakes ein schweres Rennen ausgesucht. Ein zu schweres, denn sie wurde Letzte.

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Unterdessen taten sich bei uns zu Hause in Deutschland merkwürdige Dinge. Ein Pferd, das bisher nur ein paar Verkaufsrennen in Frankreich gewonnen hatte, wird Gruppesieger (in Dresden), in Dortmund gewinnt ein achtjähriger Wallach als Jahresdebütant den G3-Großen Preis der Wirtschaft (der großartige Potemkin) und in Hannover siegt ein Pferd im letzten Derby-Trial, das gar keine Derbynennung hat.

Potemkin, bei seinem Sieg im Großen Preis der Wirtschaft in Dortmund (GR.III)
Potemkin, bei seinem Sieg im Großen Preis der Wirtschaft in Dortmund (GR.III)

Und dann – wieder in Dortmund – verwechseln einige Reiter in einem 800-Meter-Rennen den Zielpfosten und hören auf zu reiten. Das ist auch schon anderen passiert. Ich denke da an Lester Piggott, der1974 im G3-Prix du Palais Royal, einem 1400-Meter-Rennen in Longchamp, mit dem deutschen Pferd Garzer am 1. Ziel vorne war und sich als Sieger wähnte. Im richtigen, 2. Ziel war er dann nur noch Zweiter, was Piggott eine Sperre von acht Tagen einbrachte. In Hamburg wird am Samstag ein 900 Meter-Rennen gelaufen. Dort gibt es aber nur ein Ziel.

 

Deutscher Galopp

Die neue Marke Deutscher Galopp (ehemals GERMAN RACING) bildet die große Dachmarke, unter der spannende Pferderennen und stimmungsvolle Veranstaltungen auf den deutschen Rennbahnen stattfinden. Gleichzeitig fungiert die Marke als Oberbegriff für den Galopprennsport in Deutschland.

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