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Blog: Chefhandicapper Harald Siemen

Zwischen Ratibor und Leverkusen

18. November 2020

Es ist gut möglich, dass man in Leverkusen mehr über Ratibor weiß. Dass etwa der ehemalige Vertriebenenpolitiker Herbert Hupka dort Ehrenbürger ist, der große Baumeister Karl-Friedrich Schinkel das Gerichtsgebäude geplant hat und dass die Stadt früher zur preußischen Provinz Oberschlesien gehörte und heute zu Polen. Denn Leverkusen ist Partnerstadt von Ratibor. Dass aber Victor I., Herzog von Ratibor, von 1873 bis zu seinem Tode im Januar 1893 Präsident des Union-Klubs war, also der ersten leitenden Körperschaft des Galoppsports in Deutschlands und damit Vorgänger des Deutschen Galopps, des Direktoriums für Vollblutzucht und Rennen und der Obersten Behörde für Vollblutzucht und Rennen, das dürfte selbst das Wissen in Leverkusen übersteigen.
Nach diesem Herzog also ist das Herzog von Ratibor-Rennen benannt, das am Sonntag unter der Partnerschaft der Stadtwerke Krefeld zum Austrag kam. Der 142. Sieger dieses Traditionsrennens für Zweijährige war mit Mythico ein Pferd, das gewiss nicht aus der Welt lag, das man sich aber eher als Platzierten, denn als Sieger hatte vorstellen können. Im Preis des Winterfavoriten hatten ihm als Dritten zu Best of Lips und Sea of Sands noch 7 ½ Längen zum Sieg gefehlt, so dass man glauben durfte, dass einer aus der Reihe der erst wenig geprüften, noch „dunklen“ Konkurrenten wie Virginia Storm, Novellini oder Dolcetto sich als zu stark erweisen würden. Doch Mythico siegte, er war an diesem Tag einwandfrei der Beste. Wie gut er nun ist – oder besser gesagt: welche Leistung in Pfund und Kilogramm er bei seinem Sieg gezeigt haben könnte, das ist jetzt die Aufgabe des Handicappers.
Er bewegt sich dabei, ehrlich gesagt, auf recht unsicherem Terrain. Das einzige Pferd im Feld der neun Teilnehmer, das – außer Mythico selbst – als solide Rechengröße hätte dienen können war Sardasht, aber der war am Ende zu weit geschlagen, um dafür in Frage zu kommen. So kreisten die Gedanken hauptsächlich darum, wo der Sieger jetzt, wo die Saison der Zweijährigen langsam zu Ende geht, im Jahrgang zu platzieren ist. An der Spitze stand und steht mit 95,5 kg Best of Lips, der Erfolg im Preis des Winterfavoriten hat ihn vorläufig zur Nummer eins seines Jahrgangs gemacht, auch wenn der nachfolgende Start in Saint-Cloud etwas ernüchternd ausfiel. Dahinter folgt bei den Hengsten Sea of Sands mit 92 kg. Mythico hatte sich vorher bereits durch Platzierungen in Frankreich von 79 kg auf 84 kg und schließlich als Dritter im „Winterfavoriten“ auf 88,5 kg steigern können. Er hat sicher noch einmal zugelegt, aber es fällt schwer zu glauben, dass er zwischen Köln und Krefeld ein ganz anderes Pferd geworden ist. Wir stellen Mythico daher mit 92 kg (Rating 104) einstweilen auf eine Stufe mit Sea of Sands, aber nicht über ihn.
Insgesamt macht der Jahrgang der Zweijährigen in diesem Jahr einen etwas unübersichtlichen Eindruck. Ein klarer Derbyfavorit ist nicht ersichtlich, was man auch an den Kursen der Online-Buchmacher ablesen kann, deren Kurse bei 200:10 beginnen. Nachfolgend die vorläufige Rangfolge der Zweijährigen bis zu einem GAG von 90 kg:

Best of Lips 95,5
Noble Heidi 93,5
Novemba 92,5
Mythico 92
Sea of Sands 92
Dolcetto 91,5
Juanito 91,5
Amazing Grace 91
Reine d´Amour 90,5
Peaches 90
Virginia Storm 90

Das sind immerhin elf Pferde mit einem GAG von 90 kg oder mehr. Im Vorjahr waren es sechs, in den Jahren davor 14, 10, 14 und 12. Dass es in der vorigen Saison so wenige waren lag auch daran, dass die damals alles überragenden Wonderful Moon (96 kg), Rubaiyat (96 kg) und Alson (95,5 kg) den anderen Zweijährigen nichts übrig gelassen hatten. In der Rückschau betrachtet haben die Drei die sehr hohen Erwartungen in diesem Jahr wohl nicht ganz erfüllen können. Alson am wenigsten, am ehesten noch Wonderful Moon. Bemerkenswert ist aber, dass alle drei jetzt nach einem Jahr und zusammen 16 Starts immer noch unverändert bei 96 kg bzw. 95,5 kg stehen. Sie haben ihr Niveau also exakt halten können, besser werden konnten sie allerdings (noch) nicht.

***

In der vorigen Woche hatte ich geschrieben, dass der neue „GoingStick“ entgegen allen Wahrnehmungen das Münchener Geläuf als „weich“ eingestuft hatte. Rennleitungschef Frank Becker hat daraufhin angerufen und mich berichtigt: Der GoingStick ist unschuldig, er hat korrekt „schweren“ Boden gemessen, wie diese Grafik beweist (Going Stick). Da sich der GoingStick aber noch in der Probezeit befindet, wurden für den Münchener Renntag noch die notorisch unzuverlässigen Werte des alten, mechanischen Bodenprüfgerätes veröffentlicht (weich 5,3-5,7).

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Für all diejenigen, die sich jedesmal auf das im März bei „Timeform“ erschienene Kompendium „Racehorses of…“ gefreut haben, gibt es schlechte Nachrichten: Nach 72 Jahren stellt das von dem Mathematikprofessor, Berufswetter und Publizisten Phil Bull 1948 gegründete Medienunternehmen Portway Press, das seit 2016 zur Paddy Power/Betfair-Gruppe gehört, die Herausgabe seines Jahresbandes ein, in dem auf zuletzt mehr als 1200 Seiten die besten Pferde aus aller Welt in ausführlichen, manchmal brillanten Essays vorgestellt wurden. Daneben erhielt jedes Pferd eine Handicapmarke, wobei Timeform sich bemühte, über die Jahrzehnte hinweg ein einheitliches Niveau beizubehalten. Deren Marken lagen zuletzt immer ca. vier Pfund über denjenigen der offiziellen Handicapper. Das höchste jemals vergebene Rating waren die 147 Pfund für den vierjährigen Frankel im Jahr 2012, was umgerechnet einem offiziellen GAG von 113,5 kg entspricht. Dahinter folgen Sea Bird (145), Brigadier Gerard (144), Tudor Minstrel (144), Abernant (142), Ribot (142) und Mill Reef (141). Sea The Stars und Arrogate, um zwei Pferde aus neuerer Zeit zu nennen, kamen auf Marken von 140 bzw. 139.
Hauptsächlich wirtschaftliche Gründe sind für die Einstellung der Publikation ursächlich, auch das Hindernis-Pendant „Chasers & Hurdlers“ und das wöchentlich erscheinende „Black Book“ sind davon betroffen. So hat Timeform seit Beginn der Corona-Krise im März keine der bei den Rennbahnbesuchern in England und Irland so gefragten „Racecards“ mehr verkauft. Diese sollen allerdings wieder aufgelegt werden, sobald Zuschauer wieder zugelassen sind. Im Übrigen will man sich auf Online-Services konzentrieren.
„Racehorses of 1970“ war der erste Jahresband, den ich im Frühjahr 1971 bei der Pferdebuchhandlung „Dr. Rudolf Georgi-A.Bourseau Nachf.“ in Aachen zum Preis von 75 Mark erstanden hatte, darin ein großer Aufsatz über Nijinsky (Rating 138), der mit dem Ratschlag „Never use a superlative“ beginnt. Seitdem haben sich bei mir weitere 49 voluminöse Bände angesammelt, dazu nochmal 17 aus den Jahren 1953 bis 1969, die ich antiquarisch in England erwerben konnte. Es erfüllt einen mit Wehmut, wenn nunmehr eine solche Sammlung nicht mehr weitergeführt werden kann. Immerhin ist die Ankündigung tröstlich, ein neues Online-Format entwickeln zu wollen. Ob das ein Ersatz für die gedruckte Ausgabe werden kann, wird im Wesentlichen davon abhängen, ob darin auch die wunderbaren Essays enthalten sein werden, die nach den Worten des führenden britischen Turf-Historikers John Randall den „Gipfelpunkt der Turfliteratur“ darstellen.

Das Ratibor-Rennen war das letzte Grupperennen des Jahres in Europa und auch der Handicapper-Blog macht nun eine Winterpause bis zum Frühjahr des kommenden Jahres.

Timeform Racehorses of 2019
Timeform Racehorses of 2019
 

Deutscher Galopp

Die neue Marke Deutscher Galopp (ehemals GERMAN RACING) bildet die große Dachmarke, unter der spannende Pferderennen und stimmungsvolle Veranstaltungen auf den deutschen Rennbahnen stattfinden. Gleichzeitig fungiert die Marke als Oberbegriff für den Galopprennsport in Deutschland.

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