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Blog: Chefhandicapper Harald Siemen

Tünnes jetzt in der Eliteklasse

9. November 2022

In der Altstadt von Köln, gleich gegenüber der Kirche Groß St. Martin, steht das Bronze-Denkmal von Tünnes und Schäl. Die dicke Knollennase von Tünnes ist schon ganz blank, denn es soll Glück bringen, darüber zu reiben. Die beiden kölschen Originale aus dem „Hänneschen-Theater“ gehören zur Stadt wie das Kölsch und der Karneval, immerhin war das Puppentheater schon 1823 beim ersten Karnevalsumzug dabei und ist es heute noch. Also musste man früher oder später damit rechnen, dass Holger Renz eines seiner Pferde den Namen Tünnes gibt, schließlich tragen alle seine Pferde kölsche Namen. Die Namensgebung von Rennpferden ist ja ein interessantes, gleichwohl stark vernachlässigtes Randgebiet unseres Sports. Heinz Jentzsch zum Beispiel, der große Trainer, hat zeitlebens den Standpunkt vertreten, dass ein gutes Pferd einen vernünftigen Namen haben muss. Nun ist der Name Tünnes seiner Bedeutung nach durchaus doppeldeutig. Die Holzfigur im Theater ist ein gutmütiger, wenn auch etwas einfältiger Charakter, das vermeintliche Schimpfwort „Du Tünnes!“ hört auf sich bezogen allerdings niemand gern, auch wenn das kölsche Wörterbuch beschwichtigend sagt, es sei eher liebevoll gemeint.

Seit Sonntag nun sieht es so aus, dass sich auch die große Rennsportwelt bald mit dem Namen Tünnes wird beschäftigen müssen und man darf gespannt sein, wie der außerhalb des deutschen Kulturkreises als „Tunnes“ wiedergegebene Name denn von den Rennbahnkommentatoren ausgesprochen wird. Vielleicht wird Japan in zweieinhalb Wochen schon der erste Test in dieser Hinsicht sein, denn Trainer Peter Schiergen plant mit dem „Ausnahmegalopper“ (Originalton Schiergen) als nächstes für den Japan Cup. Vier Mal war Schiergen schon beim Japan Cup dabei, zweimal mit Nightflower (11. und 12.), mit Tiger Hill (10.) und mit Danedream (6.). Er wird also wissen, was da verlangt wird. Im Laufe der Jahre hat sich der Japan Cup für alle nicht-japanischen Pferde zu einem wahren Mount Everest des Rennsports entwickelt. Der letzte nichtjapanische Sieg stammt aus dem Jahr 2005, damals siegte Alkaseed aus England. Seit seiner ersten Austragung im Jahre 1982 waren 21 Pferde aus Deutschland am Start, zuletzt 2017 Guignol (8.) und Iquitos (15.). Lando hat 1995 bekanntlich gewonnen, Platini und Caitano schafften vierte Plätze.

Nach seiner bereits brillanten Vorstellung im Deutschen St. Leger war der Sieg von Tünnes im Allianz Großen Preis von Bayern allgemein erwartet worden. Trotzdem musste der Stil des Erfolges verblüffen, selbst wenn man das sehr schwere Geläuf und die damit verbundenen Unwägbarkeiten in Betracht zieht. Auffallend seine wunderbar fließende und raumgreifende Galoppade, mit der er das Geschehen von der Spitze aus kontrollierte und im Ziel zehn Längen Vorsprung herausgeholt hatte. Dass ein Gruppe-I-Rennen mit einer solchen oder noch größeren Überlegenheit gewonnen wird, ist äußerst selten. In Deutschland haben das seit Einführung des Grupperenn-Systems im Jahre 1972 vor Tünnes nur Orofino (12 ¾ Längen), Sea The Moon (11 Längen) und Ghaiyyath (14 Längen) geschafft.

Der Handicapper gerät nach solch überlegenen Siegen häufig in Schwierigkeiten. Er muss, will er nicht in stratosphärische Höhen geraten, seine üblichen Rechenmethoden über den Haufen werfen. Ansonsten würde er in diesem Fall bei einer Rechnung über die zweitplatzierte Well Disposed (GAG 95 kg) für Tünnes bei einer Marke von 103,5 kg (Rating 127) landen, was hieße, dass er hinter Flightline und Baaeed an dritter Stelle in der Weltrangliste zu stehen käme. Es ist nicht völlig ausgeschlossen, dass Tünnes tatsächlich so gut ist, aber den Beweis dafür möchten wir doch bei allem Respekt zu einer anderen Gelegenheit führen als nach einem Rennen gegen vier Gegner, die allesamt bisher nicht mehr als Gruppe-III-Rennen gewonnen haben. Was für eine Marke kann man Tünnes also nach diesem Allianz Großen Preis von Bayern geben? Bisher stand er bei 97 kg , die er sich bei seiner 8-Längen-Gala im St. Leger verdient hat. Damals wollten wir ihn noch nicht über Sammarco stellen, aber dass er jetzt als Jahrgangsbester dasteht, daran ist seit Sonntag nicht mehr zu zweifeln. 100 Kilo (Rating 120) bedeuten international den Eintritt in eine Eliteklasse, in die es jährlich nicht mehr als rund 60 Pferde schaffen. Tünnes wollen wir seit Sonntag – zumindest vorläufig – dazuzählen.

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München, Großer Allianz-Preis von Bayern (Gr. 1) - Sieger: Tünnes

 

Nun sind auch die Rennen um den Breeders´ Cup gelaufen und das Interesse aus deutscher Sicht galt besonders dem Breeders´ Cup Turf. Den gewann mit Rebel´s Romance ein Pferd, das in der laufenden Saison bereits zwei Gruppe I-Rennen in Hoppegarten und Köln gewonnen hat. Seine tatsächliche Klasse blieb dabei noch etwas im Dunkeln. Jetzt aber steht er in hellem Licht da und etwas davon scheint auch auf den Großen Preis von Berlin und den Preis von Europa. Rebel´s Romance steht nach seinem Breeders´ Cup-Sieg in der Nachfolge solch großartiger Pferde wie Marienbard, Ghaiyyath und Alpinista, die sich nach Siegen in deutschen Gruppe I-Rennen zu Weltstars entwickelten. Bei Rebel´s Romance hatte man eigentlich während des ganzen Rennens ein gutes Gefühl, denn er galoppierte zunächst zwar im hinteren Drittel, aber immer in guter Haltung. Ähnliches hat man ja schon in Hoppegarten und Köln beobachten können und man wusste um die enorme Beschleunigung, die er bei seinen beiden deutschen Erfolgen gezeigt hat. Er ist jetzt nach fünf Starts auf Gras noch ungeschlagen, seine Grenzen hat man vielleicht noch gar nicht gesehen. Zunächst einmal verbesserte er sein Rating von 117 auf 122 (101 kg).

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Schon einen Tag nach seinem 8 ¼-Längen-Sieg im Breeders´ Cup Classic kam die Nachricht, dass Flightline ins Gestüt wechselt. Die Entscheidung fiel schneller als erwartet und sie war eher nicht im Sinne der Rennbahnbesucher und Rennveranstalter, die das Pferd lieber im kommenden Jahr noch auf der Rennbahn gesehen hätten – womöglich noch auf Gras und über 2400 Meter, so wie Secretariat vor 50 Jahren. Überhaupt wurde der Name Secretariat neben dem von Frankel als Referenz für die Größe eines Rennpferdes zuletzt häufig genannt. Frankel, der 14 Starts ohne Niederlage beendete, kam auf eine Handicapmarke von 140 (110 kg), die auch Flightline noch erreichen kann, auch wenn er nach seinem Sieg am Wochenende weiter bei 139 stehen wird. Aber Endgültiges wird man erst wissen, wenn die Jahres-Rankings im Januar veröffentlicht werden. Damals, als Secretariat die Belmont Stakes mit 31 Längen Vorsprung gewann, gab es noch keine derartigen Rankings, doch in Amerika hat man berechnet, dass seine Marke jenseits von 150 (115 kg) liegen müsste.

Flightlines Rennlaufbahn ist also beendet und beschränkte sich auf nur sechs Starts, die er drei- und vierjährig absolvierte, mehrfach wurde er durch Verletzungen gestoppt. Er blieb ungeschlagen, hat keinen Gegner näher als sechs Längen an sich herangelassen und bei seinen sechs Starts insgesamt 72 Längen Vorsprung herausgeholt. Das sind Zahlen für die Ewigkeit. Das Pferd ist dadurch einfach zu wertvoll geworden (1/40-Anteil wurde am Montag für 4,6 Mio. Dollar versteigert), um es weiter den Risiken von Training und Rennen auszusetzen, allein die Versicherungssumme hätte Millionen verschlungen. Und im Kern sind Pferderennen ja immer noch Leistungsprüfungen, sie dienen der Zuchtauswahl und sind erst in zweiter Linie Unterhaltung für das Publikum. Und beweisen muss Flightline gar nichts mehr, auch wenn man jetzt, am Ende seiner kurzen Laufbahn, immer noch nicht weiß, wie gut er wirklich ist.

Flightline mit Flavien Prat nach dem Sieg im Breeders' Cup Classic, Foto: Frank Sorge/Galoppfoto.de
Flightline mit Flavien Prat nach dem Sieg im Breeders' Cup Classic,
Foto: Frank Sorge/Galoppfoto.de
 

Sollten nicht außergewöhnliche Umstände eintreten, war dies der letzte Handicapper Blog für dieses Jahr.

Deutscher Galopp

Die neue Marke Deutscher Galopp (ehemals GERMAN RACING) bildet die große Dachmarke, unter der spannende Pferderennen und stimmungsvolle Veranstaltungen auf den deutschen Rennbahnen stattfinden. Gleichzeitig fungiert die Marke als Oberbegriff für den Galopprennsport in Deutschland.

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