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Blog: Chefhandicapper Harald Siemen

Licht am Ende des Tunnels

7. Oktober 2020

Jetzt ist der Herbst da und man darf wieder Drachen steigen lassen, vor Kartoffelfeuern sitzen und am Strand den Hund von der Leine lassen. Der Herbst ist aber auch die Jahreszeit, zu der im Galopprennsport abgerechnet wird. Für den Handicapper bedeutet das, langsam eine Antwort auf die Frage nach der sportlichen Bilanz des Rennjahres zu geben. Okay – die Saison ist noch nicht ganz vorbei, mit dem Großen Preis von Bayern kommt noch ein Gruppe I-Rennen und für die Zweijährigen stehen noch große Prüfungen an. Bei den Dreijährigen aber, immer der wichtigste Jahrgang in unserem Sport, hat das vorige Wochenende weitgehend für Klarheit gesorgt, und zwar in einem eindeutig positiven Sinne. Wir haben uns zuletzt ja lange genug in Skeptizismus üben und zusehen dürfen, wie ein großes Rennen nach dem anderen durch zum Teil zweitklassige Pferde aus England, Frankreich und sogar Ungarn verloren gegangen ist. Lange hat man vergebens nach einem Pferd in der Nachfolge des so erfolgreichen Trios Iquitos, Dschingis Secret und Guignol Ausschau gehalten, von so großartigen Pferden wie Danedream, Novellist, Pastorius oder Sea The Moon ganz zu schweigen. Jetzt darf man langsam wieder hoffen, was einem Dreijährigen-Jahrgang zu verdanken ist, der – wenn nicht alles täuscht – der Beste seit langer Zeit ist.
Dreh- und Angelpunkt bei dieser Bewertung ist mit In Swoop ein Pferd, das zwar in einem französischen Rennstall steht, das als Schlenderhaner und Derbysieger in Hamburg, dazu noch ausgestattet mit einem zu 75 Prozent deutschen Pedigree, ausnahmsweise einmal dem einheimischen Dreijährigen-Kontingent zugeschlagen werden darf. Denn 24 Stunden, nachdem die im Derby platziert gelaufenen oder doch zumindest im Vorderfeld eingekommenen Torquator Tasso, Dicaprio, Kaspar und Grocer Jack am Samstag im G1-Longines Großen Preis von Berlin die vier vorderen Plätze belegt hatten, setzte In Swoop mit seinem zweiten Platz im Prix de l‘Arc de Triomphe das Siegel unter ein Zeugnis, mit dem unseren besten Dreijährigen das Prädikat internationale Klasse bescheinigt werden darf.

Berlin-Hoppegarten - 3.10.2020: 130. Grosser Preis von Berlin (Gr. I) - Sieger: Torquator Tasso

Nach dem so verunglückten Großen Preis von Baden konnte man in seiner damals schon grundsätzlich positiven Einschätzung der Dreijährigen ja wieder schwankend geworden sein, und so stand am Samstag in Hoppegarten einiges auf dem Spiel. Aber diesmal gab es keine Bummelei, sondern ein zügig gelaufenes und einwandfreies Rennen, dem einige Aussagekraft zugebilligt werden kann. So konnte vor allem Kaspar sein schwaches Abschneiden aus Iffezheim richtigstellen und wieder an seinen ausgezeichneten zweiten Platz aus dem Kölner Preis von Europa anknüpfen, ein Rennen, das im Nachhinein noch mehrfach aufgewertet worden ist. 97,5 kg (Rating 115) hatten wir Kaspar in Köln zugebilligt, eine Marke, die Aufnahme in die Weltrangliste gewährt, die alljährlich im Dezember in Hongkong aufgestellt wird. Es gibt keinen Grund für die Annahme, dass der Röttgener am Samstag in Hoppegarten unter dieser Marke geblieben sein soll, so dass sich hierüber für die beiden vor ihm Platzierten neue Handicapmarken von 98,5 kg (117) für Dicaprio und 99 kg (118) für Torquator Tasso ergeben. Der Sprung, den Dicaprio (vorher 91,5 kg) damit in der Hierarchie der Dreijährigen macht, könnte Anlass zu Bedenken geben, die wir aber nicht haben, wenn wir daran denken, dass Dicaprio bereits im Juni mit Notre Ruler den Derbyfünften (später befördert auf Rang vier) mit sieben Längen hinter sich gelassen hat.
Sollten die genannten Marken, die wie immer nur vorläufig sind, am Jahresende endgültig werden (derzeit liegen einige meiner ausländischen Kollegen noch ein Pfund darunter), dann würde das Horner Derby in diesem Jahr die vor dem Gruppe I-Status aufgebaute Hürde von durchschnittlich 115 (97,5 kg) für die vier Erstplatzierten leicht nehmen. Für die vier Erstplatzierten In Swoop, Torquator Tasso, Kaspar und Notre Ruler ergibt sich vorläufig ein Rating-Schnitt von 116,25 (98 ¼ kg). Damit wäre dieses Derby das zweitbeste der vergangenen 20 Jahre, übertroffen nur vom Pastorius-Novellist-Derby (117,50).

* * *

Der zweite Platz soll ja angeblich ein „Ehrenplatz“ sein. Wer sich das ausgedacht hat, möchte ich mal wissen. Auch Wolfgang Schäuble hatte etwas übrig für die Zweiten, stammt von ihm doch der legendäre Satz „second best ist allemal besser als nothing“. Aber insgesamt hat der zweite Platz keinen besonders guten Ruf. Dem „ewigen Zweiten“ hängt stets der Makel des Losers an und der Satz „Der Zweite ist immer der erste Verlierer“ ist geradezu ein Klassiker aus dem Bereich der Motivationssprüche. In diese Reihe gehört auch der Spruch „An den Zweiten erinnert sich später niemand mehr“, der in der ersten Enttäuschung über den so knapp verpassten Sieg von In Swoop im Qatar Prix de l'Arc de Triomphe am Sonntag aus dem Munde von Trainer Francis-Henri Graffard zu hören war.
Inzwischen dürfte diese Enttäuschung der Freude über das Erreichte gewichen sein, denn noch vor wenigen Wochen durfte man auf einem solchen Erfolg vielleicht hoffen, aber kaum rechnen. Dann kam der zweite Platz im Grand Prix de Paris, dann fing es an zu regnen, und als dann noch das starke Starterkontingent aus Irland mit einer Oaks-Siegerin, zwei Derby- und zwei Grand Prix de Paris-Siegern wegen unpassender Bodenverhältnisse bzw. kontaminierter Futteraufnahme aus dem Rennen genommen wurde, ergaben sich plötzlich ganz neue Perspektiven. Zugegeben: es war selten so leicht, in einem Prix de l'Arc de Triomphe in die Platzierung zu laufen. Aber auch in diesem eher schwach besetzten „Arc“, in dem die beiden Sechsjährigen Enable und Stradivarius die herausragenden Teilnehmer waren (die dann auch noch versagten), mussten immer noch gute Pferde geschlagen werden, um dahin zu kommen, wo In Swoop hingekommen ist. Dafür musste der Schlenderhaner erneut seine Trumpfkarte ausspielen, und das ist bekanntlich die Beschleunigung auf dem letzten Teilstück eines Rennens,¬ ein untrügliches Zeichen für Klasse. Die von France-Galop veröffentlichten „Sectional Times“ (warum macht Hoppegarten das für seine Rennen nicht auch? Sie haben doch die Technik) zeigen, dass In Swoop sowohl auf den letzten 200 Metern, die er in 12.03 Sekunden bewältigte, das schnellste Pferd war (0.23 Sekunden schneller als der Sieger Sottsass), als auch auf den letzten 400 Metern (23.89 Sekunden). Man könnte daraus folgern, dass In Swoop gewonnen hätte, wenn sein Reiter sich anfangs nur ein klein wenig weiter nach vorne orientiert hätte.

QATAR PRIX DE L’ARC DE TRIOMPHE 2020 | Sottsass | ParisLongchamp | Groupe 1 - by Equidia

Aufgrund der gesamten Umstände, also schwerer Boden, ausgedünntes Starterfeld, Versagen der Favoriten und taktischer Rennverlauf, bei dem der zweifelhafte Steher Persian King an der Spitze das Tempo verschleppte, kann der diesjährige Prix de l'Arc Triomphe im Vergleich zu früheren Entscheidungen nur am unteren Ende der Skala angesiedelt werden. Seine Leistung von 123 (101,5 kg) als Dritter des Vorjahres brauchte Sottsass nur zu wiederholen, um diesmal zu gewinnen. Das ist zwar nicht die niedrigste Marke für einen Arc-Sieger überhaupt (das sind die 122 von Solemia aus dem Jahre 2012), es ist aber doch die zweitniedrigste (die höchste erreichte Sea The Stars 2009 mit 138). Für In Swoop ergibt sich danach mit 122 (101 kg) immer noch ein sehr ansehnliches Rating, das von einem deutschen Derbysieger im Jahr seines Derbysieges zuletzt von Sea The Moon und davor von Pastorius erreicht bzw. übertroffen worden ist. Mit dieser Marke ist er aktuell hinter der Oaks-Siegerin Love (123=101,5 kg) und gleichauf mit dem noch ungeschlagenen japanischen Derbysieger Contrail das zweitbeste Pferd über die 2400-Meter-Strecke weltweit.

 

Deutscher Galopp

Die neue Marke Deutscher Galopp (ehemals GERMAN RACING) bildet die große Dachmarke, unter der spannende Pferderennen und stimmungsvolle Veranstaltungen auf den deutschen Rennbahnen stattfinden. Gleichzeitig fungiert die Marke als Oberbegriff für den Galopprennsport in Deutschland.

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