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Blog: Chefhandicapper Harald Siemen

Kein Hase und kein Plan B

16. September 2020

Der einst vom Galopprennsport geprägte Begriff des Pacemakers hat ja im Laufe der Zeit eine Bedeutungserweiterung erfahren. Zunächst sprang der Begriff über auf den Bahnradsport und die noch vor 50 Jahren so beliebten Steherrennen, in denen der Radrennfahrer (der Steher) hinter einem Motorrad im Windschatten über lange Distanzen fuhr und dabei hoffentlich nicht „von der Rolle“ kam. In der Medizin versteht man unter einem Pacemaker heute einen Herzschrittmacher und in der Leichtathletik einen Läufer oder eine Läuferin, die auf internationalen Sportfesten oder bei Rekordversuchen das Tempo bestenfalls so gestalten, dass am Ende das gewünschte Ergebnis herauskommt. Wegen ihrer aufopferungsvollenTätigkeit werden sie liebevoll „Hasen“ genannt. Ist der Hase selbst ein Rekordläufer, spricht man von einem „Edelhasen“. Sabrina Mockenhaupt hat das mal gemacht. Im Galopprennsport dagegen hat der Hase zuletzt an Bedeutung eingebüßt, vom Edelhasen ganz zu schweigen. Man sieht ihn fast nur noch, wenn Coolmore einen oder zwei davon ins Rennen schickt – manchmal gewinnt sogar einer, wie zuletzt Serpentine beim diesjährigen englischen Derby. In Deutschland dagegen steht er auf der Roten Liste der aussterbenden Tierarten. Wenn meine Erinnerung mich nicht trügt, dann war der letzte Hase in einem bedeutenden deutschen Rennen der Schlenderhaner Next Vision, der 2012 für eine Woche von Dr. Berglar gepachtet wurde, um Novellist im Großen Preis von Baden zu assistieren. Die Sache ging aber gründlich daneben, denn Next Visions Reiter war der Aufgabe nicht gewachsen, legte statt eines schnellen nur ein flaues Tempo vor. Sehr aktiv waren die Hasen dagegen noch in den Neunziger Jahren. Lando zum Beispiel verbrauchte mit Sportivo, Embarcadero und Conception gleich drei Edelhasen, und auch Tiger Hill hatte mit Saugerties gelegentlich einen leistungsfähigen Pacemaker an seiner Seite.
Warum erzähle ich das alles? Weil am vorigen Sonntag, nach dem 148. Longines Großer Preis von Baden in Iffezheim, von Pacemakern gesprochen wurde. Von abwesenden Pacemakern allerdings, denn das im Großen Preis angeschlagene Tempo war derart langsam, dass man befürchten musste, die Reiter hätten die Absicht, unterwegs irgendwo zum Kaffeetrinken einzukehren. Das fehlende Tempo wurde denn auch von den Verantwortlichen der geschlagenen Favoriten als Hauptgrund für die schwere Niederlage ihrer Pferde genannt. Eine Niederlage, die vielleicht zu verhindern gewesen wäre, wenn man im eigenen Stall nur etwas gründlicher nach einem geeigneten „Hasen“ Ausschau gehalten oder einen Plan B zur Hand gehabt hätte. Plan B besteht in solchen Fällen darin, selbst die Initiative zu ergreifen und es nicht auf einen Sprint die Zielgerade hinunter ankommen zu lassen, bei dem immer diejenigen Pferde im Vorteil sind, die gerade im Vordertreffen galoppieren. Das waren am Sonntag vor allem Barney Roy und Communique und so ging der schöne Preis für die deutschen Ställe zum dritten Mal in Folge verloren und wanderte über den Kanal nach England und in den Trophäenschrank von Scheich Mohammed al-Maktoum.

Baden-Baden - 13.09.2020: 148. Longines Grosser Preis von Baden (Gr. I) - Sieger: Barney Roy

2:39,58 Minuten dauerte das Rennen auf zwar nicht ausgesprochen schnellem, aber doch noch halbwegs gut zu nennendem Geläuf. Das ist eine für den Großen Preis von Baden unwürdige Zeit, sogar der Sieger des nachfolgenden Ausgleichs IV lief zwei Sekunden schneller. Überhaupt muss man konstatieren, dass die Zeiten im Großen Preis von Baden im Laufe der Jahre immer langsamer geworden sind, wie die nachfolgende Tabelle zeigt:

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Zeitraum Zahl der Rennen bei Boden gut Zahl der Rennen bei Boden weich Zeit unter 2:30 Min. Zeit 2:30 Min. oder mehr
1981-2000 11 9 12 8
2001-2020 16 4 1 19

Das Bummeltempo stellt den Wert des diesjährigen Großen Preises auch insgesamt in Frage. Das zweifelhafte Stehvermögen des Siegers Barney Roy brauchte nicht auf die Probe gestellt zu werden und die auf Warten gerittenen Pferde, also vor allem Torquator Tasso und Donjah, konnten nicht genug aufholen, da auch die meisten vor ihnen liegenden Pferde noch genügend Reserven hatten.
Trotz alledem muss der Handicapper auch für dieses Rennen mit Zahlen herauskommen. Diese können angesichts der nicht überwältigend hohen Marken, mit denen die Teilnehmer schon an den Start gegangen sind, und aufgrund der komprimierten Zielankunft, die auch auf die Bummelei zurückgeht, nur klein sein. Barney Roy steht in England bei einem Rating von 115, was einem GAG von 97,5 kg entspricht. Wir wollen glauben, dass er diese Marke auch am Sonntag eingestellt hat, so dass sich für Communique (vorher 95 kg) und für Torquato Tasso (vorher 95,5 kg) jeweils 96,5 kg ergeben. Die Marke unseres Derbyzweiten geht also um ein Kilo nach oben, was insofern passt, als auch Derbysieger In Swoop zur gleichen Zeit 500 Kilometer weiter westlich als Zweiter im Grand Prix de Paris sein Rating von 96,5 kg auf 97,5 kg steigern konnte. Unnötig zu sagen, dass die Marke für Barney Roy der niedrigste Wert für einen Sieger des Großen Preises von Baden seit Einführung der International Classification bzw. der World Best Racehorse Rankings im Jahre 1985 ist. Und das ein Jahr nach einer der höchsten jemals für das Rennen vergebenen Marke von 103 Kilo, nach Ghaiyyaths unvergesslichem Alleingang vor 12 Monaten. Über den Großen Preis von Baden 2020 dagegen wird in einigen Jahren kaum noch jemand sprechen.

* * *

Zwanzig Minuten vor dem Longines Großen Preis von Baden wurde in ParisLongchamp der G1-Grand Prix de Paris gestartet. Einen größeren Unterschied zum Großen Preis von Baden kann man sich kaum ausdenken, denn als Mogul nach 2400 Meter das Ziel als Sieger passierte, blieb die Uhr bei 2:24,76 Minuten stehen, die drittschnellste in Longchamp über diese Strecke gemessene Zeit nach den 2:24,30 Minuten von Scorpion im Grand Prix de Paris von 2005 und Danedreams Arc-Sieg in 2:24,49 Minuten. Würde man die beiden Rennen von Iffezheim und Longchamp im Film übereinander legen, so käme Mogul mit einem Vorsprung von 15 Sekunden oder 250 Metern vor Barney Roy durchs Ziel.
In Paris war im Gegensatz zu Iffezheim ein Hase mit Namen Nobel Prize am Werk, ein Hengst aus dem Stall des späteren Siegers mit einem Rating von 104 (92 kg). Das schnelle Tempo kam auch unserem Derbysieger In Swoop zugute, der anfangs – wie auch Mogul und der spätere Dritte Gold Tip – zunächst in hinteren Regionen auszumachen war. Wie schon in Hamburg kam In Swoop spät, dann aber immer besser in Tritt und noch hinter dem mit 2 ½ Längen siegenden Mogul auf den zweiten Platz. Die internationalen Handicapper sind sich mit einem Rating von 119 (99,5 kg) für Mogul ziemlich einig, wie auch mit den 115 (97,5 kg) für In Swoop. Der Schlenderhaner ist damit nach Kaspar und Torquator Tasso das dritte Pferd aus dem Vorderfeld des Derbys, das seine Marke danach steigern konnte. Beim Derbyjahrgang darf man also noch hoffen.
Der Grand Prix de Paris hat ja eine lange Geschichte. Mogul war am Sonntag der 165. Sieger dieses Rennens, das bis zur Gründung des Prix de l'Arc de Triomphe das reichste und bedeutendste Rennen Frankreichs war. Als große Sieger aus den letzten 100 Jahren sind vor allem Nearco, Pharis, Sicambre, Reliance, Sagaro, Exceller sowie die Arc-Sieger Saumarez, Subotica, Peintre Celebre, Bago und Rail Link zu nennen, aber auch die bei uns in großen Rennen siegreichen Glint of Gold, Sumayr und Meandre tauchen in der Siegerliste auf. Auch drei Pferde aus Deutschland waren bisher am Start. 2007 wurde Axxos Zweiter und Prinz Sechster, 2014 kam Guardini auf Rang zehn.

 

Deutscher Galopp

Die neue Marke Deutscher Galopp (ehemals GERMAN RACING) bildet die große Dachmarke, unter der spannende Pferderennen und stimmungsvolle Veranstaltungen auf den deutschen Rennbahnen stattfinden. Gleichzeitig fungiert die Marke als Oberbegriff für den Galopprennsport in Deutschland.

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