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Blog: Chefhandicapper Harald Siemen

„Gewinnen ohne nachzudenken“

8. Juli 2020

Winning without thinking - Unter diesem Titel, der sich mit „Gewinnen ohne nachzudenken“ ins Deutsche übersetzen lässt, erschien vor einiger Zeit in England ein „Definitiver Leitfaden für Pferdewettsysteme“. Ich bin nicht sicher, ob das Buch sich gut verkauft hat, die Botschaft ist vielleicht doch etwas simpel. Andererseits sind Wett- und Spielsysteme für viele Menschen seit jeher ein Faszinosum, besonders dann, wenn sie mit dem Adjektiv „todsicher“ in Verbindung gebracht werden. Früher waren die Leute in dieser Beziehung wohl leichtgläubiger als sie es heute sind, denn ansonsten wären Anzeigen wie diese im „Hamburger Fremdenblatt“ aus dem Jahre 1910 kaum denkbar gewesen: „Sportsmen! Ein offenes Derby kommt am Sonntag zum Austrag. Bei meiner persönlichen Anwesenheit in Hamburg erfahre ich von authentischer Seite aus allererst informierten Kreisen den Sieger. Herren, denen dran liegt, diesen zu erfahren, sowie am Montag den garantiert todsicheren Sieger des Renard-Rennens, wollen sofort zehn Mark einsenden. O.Czech, Berlin, Neanderstr. 1.“
Nun ja – ich kenne mich mit Wettsystemen nicht so aus und mir ist leider auch der Zutritt zu allererst informierten Kreisen, die mir den Derbysieger verraten könnten, verwehrt. Aber ich habe einmal darüber nachgedacht, ob sich aus den Ergebnissen vergangener Derbys nicht gewisse Muster ergeben, die auf den späteren Sieger hindeuten. Dabei bin ich auf zehn Merkmale gestoßen, die ein Derbysieger nach Möglichkeit mit an den Derbystart bringen sollte. Rückblickend auf die letzten 20 Jahre hatte ein Derbysieger –
• ein GAG von mindestens 90 kg (erfüllt von 20 der letzten 20 Derbysieger)
• vorher mindestens 3 Starts (20/20)
• eine Programmnummer von 1 bis 9 (19/20)
• einen Trainer in Deutschland (19/20)
• beim 1. oder 2. Lebensstart gewonnen (18/20)
• in einem Rennen über mindestens 2000 Meter gesiegt (18/20)
• ein Gruppe- oder Listenrennen gewonnen (18/20)
• beim Start zuvor ein Grupperennen bestritten (18/20)
• einen Vater, der ein Rennen über mindestens 2000m gewonnen hat (17/20)
• beim Start zuvor den 1., 2. oder 3. Platz belegt (16/20).
Von den 20 Derbysiegern seit dem Jahr 2000 haben Samum, Dai Jin, Shirocco, Schiaparelli, Wiener Walzer, Lucky Speed, Sea the Moon, Weltstar und Laccario alle diese 10 Bedingungen erfüllt. Bei Next Desert, Nicaron, Kamsin, Nutan, Isfahan und Windstoß konnte man neun Häkchen dahinter setzen, bei Boreal, Adlerflug und Buzzword acht, bei Waldpark und Pastorius immerhin noch sieben.
Überträgt man diese Anforderungen auf die Teilnehmer des diesjährigen Derbys, so stellt man fest, dass Wonderful Moon der einzige ist, der alle zehn Voraussetzungen erfüllt. Bei Soul Train sind es neun, bei Adrian, Kellahen und Dicaprio acht, bei In Swoop und Only the Brave sieben. (Weitere Einzelheiten dazu hier). Nach dieser 20-Jahres-Statistik dürfte also unter diesen 7 Pferden mit einer Gewissheit von 100 Prozent der Derbysieger stecken. Allerdings: Ob man mit diesem Wissen auch etwas gewinnen kann, ist eine andere Frage. Darüber müsste man jetzt wohl doch nachdenken.

* * *

Es ist fraglich, ob es ohne Henry Whicker jemals ein Derby gegeben hätte. Der Sommer 1618 war heiß und trocken und Whicker, ein Kuhhirte aus dem kleinen Dorf Epsom in der südenglischen Grafschaft Surrey, machte sich auf die Suche nach Wasser für seine Herde. Was er fand, war ein Wasserloch, aus dem das Vieh zwar nicht trinken wollte, das Ärzte und Apotheker aber als Heilwasser identifizierten – gerade recht für Leber und Magen reicher Londoner. Ein Glas kostete fünf Schillinge, das aus der Quelle destillierte Salz ist heute noch unter dem Namen „Epsom Salt“ im Handel erhältlich.

Der Rest ist Geschichte. Die Ortschaft wuchs zur Stadt, Alleen wurden gebaut und natürlich auch eine Rennbahn, und 1780 entschied der Wurf einer Münze darüber, ob ein neues Rennen für dreijährige Pferde Derby oder Bunbury heißen sollte.
Seitdem ist kein Jahr vergangen, an dem das englische Derby nicht gelaufen wurde, immer im Mai oder Juni. Diesmal aus den bekannten Gründen einen Monat später, aber doch nicht so spät wie 1917, als das (Ersatz)-Derby in Newmarket erst am 31. Juli zur Austragung kam, weil die Regierung die Haferlieferung für Rennpferde eingestellt und den Rennsport damit vorübergehend zum Stillstand gebracht hatte. Ohne den späten Termin in diesem Jahr wäre der Sieger im 241. Epsom Derby sicher nicht Serpentine gewesen, denn der Hengst hatte erst eine Woche vorher bei seinem zweiten Lebensstart zum ersten Mal gewonnen, ein Maidenrennen auf dem Curragh, mit neun Längen Vorsprung. Es war interessant nach dem Derby zu lesen, wie Serpentines nur sporadisch zum Einsatz kommender Jockey Emmet McNamara von seinem Trainer, der sechs Pferde an den Start brachte, auf den Ritt mit dem 25:1-Außenseiter eingestimmt wurde. Aidan O'Brien, so McNamara, habe ihn tags zuvor beiseite genommen und mit einer Bestimmtheit, die keinen Zweifel zuließ, erklärt, welch wichtige Rolle er in diesem Derby spielen werde und dass er ihn ganz weit vorne erwarte. Derart mit Selbstbewusstsein aufgeladen, hat McNamara dann alles richtig gemacht und die schwierige Aufgabe, das englische Derby von der Spitze aus zu gewinnen, perfekt gelöst. Als Pferd und Reiter mit 12 Längen Vorsprung den Berg herunter auf Tattenham Corner zustürmten, konnte man den Ausgang schon ahnen. Denn Serpentine ist ein Galileo-Sohn und die Galileos, auch das sagte O'Brien einmal, sind mit einem speziellen Gen ausgestattet, das sie nie aufgeben lässt. Sie laufen immer weiter.
Wenn ein Pferd das englische Derby mit 5 ½ Längen Vorsprung gewinnt, dann darf man ein hohes Rating erwarten. Fünf-Längen-Sieger in diesem Jahrhundert waren Authorized, Motivator und Camelot und sie erhielten Ratings von 130 (105 kg), 129 (104,5 kg) und 126 (103 kg). An diese Zahlen kommt Serpentine diesmal nicht heran, wobei der ungewöhnliche Rennverlauf, die großen Außenseiter auf den Plätzen sowie die Tatsache, dass die Reiter der Favoriten allesamt nicht ihren besten Tag hatten und dem Können ihrer Pferde vermutlich nicht ganz gerecht geworden sind, eine Rolle spielen. Wenn ich in die internationale Handicapper-Datei schaue, so dominiert derzeit ein Rating von 120 (100 kg). Für einen englischen Derbysieger ist das eher wenig, aber immer noch mehr als im Vorjahr Anthony van Dyck (118=99 kg) erhalten hat. Das englische Derby ist eben auch nicht mehr das, was es einmal war.

Video: 2020 Investec Derby - Sieger: Serpentine - by Racing TV

 

Deutscher Galopp

Die neue Marke Deutscher Galopp (ehemals GERMAN RACING) bildet die große Dachmarke, unter der spannende Pferderennen und stimmungsvolle Veranstaltungen auf den deutschen Rennbahnen stattfinden. Gleichzeitig fungiert die Marke als Oberbegriff für den Galopprennsport in Deutschland.

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