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Blog: Chefhandicapper Harald Siemen

Der Vorhang zu und alle Fragen offen

27. Mai 2020

Der eine oder andere wird sich vielleicht noch an das alte „Literarische Quartett“ erinnern, mit Marcel Reich-Ranicki, Hellmuth Karasek und Sigrid Löffler. Eine Sendung im ZDF, die auch für den literarisch nur mäßig Interessierten durchaus vergnüglich sein konnte, denn es wurde oft wild hin und her diskutiert und zum Schluss blickte der unvergleichliche Reich-Ranicki jedes Mal in die Kamera und verkündete: „Und am Ende sehen wir betroffen / den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Dieses Brecht-Zitat wird gelegentlich verwendet, wenn eine Sache ohne eindeutiges Ergebnis bleibt oder irgendwie sonst unbefriedigend verläuft und passt daher auch ganz gut zum Resultat des G3-Racebets.de-Derby Trials am Sonntag in Iffezheim. Da hatte man gehofft, dass sich endlich einmal ein neuer Gegner für den großen Derbyfavoriten Wonderful Moon zeigt, und dann dies: Die beiden Pferde mit dem höchsten GAG im Starterfeld werden Letzter und Vorletzter und vorne gewinnt mit Soul Train der einzige Teilnehmer ohne Derbynennung. Für Near Poet und Palao, die beiden Letzten, wurden im Nachhinein zwar gesundheitliche Gründe für das Versagen genannt, aber das mag vielleicht den Besitzern etwas Hoffnung zurückgegeben – dem Handicapper hilft das bei seiner Entscheidung, wie er den Sieger und damit das ganze Rennen bewerten soll, nicht weiter.

Video: RaceBets.de - Derby Trial (Gr. III) - Sieger: Soul Train

Um nach einem Grupperennen wie dem RaceBets.de-Derby Trial die mutmaßlichen Leistungen der Teilnehmer zu ermitteln, gibt es zwei Methoden. Bei dem von den offiziellen Ausgleichern in aller Welt hauptsächlich angewandten Verfahren ist Grundlage für die Rechnung ein Pferd, das seine Form vermutlich eingestellt hat. Dieses Pferd dient als „Stellpferd“, auch „Rechenpferd“ oder im englischen „marker-horse“ genannt. Je gleichmäßiger die Form dieses Stellpferdes ist, umso mehr Erfolg verspricht diese Vorgehensweise. Beim G2-Kronimus-Großen Preis der Badischen Wirtschaft, um einmal vorzugreifen auf das zweite Grupperennen des vorigen Sonntags, darf man sich dieses Erfolges recht sicher sein, denn sowohl Durance als auch Windstoß waren zuletzt sehr formbeständig. Bei einem Rennen wie dem Derby-Trial dagegen mussten andere Wege beschritten werden, weil ein geeignetes „Rechenpferd“ nicht zur Verfügung stand, denn die hinter Soul Train eingekommenen Pferde hatten – wenn überhaupt – gerade einmal ein Sieglosenrennen gewonnen. In solchen Fällen hilft nur ein historisch-statistischer Zugang, bei dem die Ratings sich am Niveau vorangegangener Entscheidungen desselben oder eines ähnlichen Rennens orientieren.
Als Grupperennen gibt es das Derby Trial in Iffezheim seit 2016. Seitdem haben Wai Key Star, Langtang, Royal Youmzain und Accon gewonnen und dafür Marken zwischen 96 und 92,5 Kilo bekommen. Da wir nicht den Eindruck hatten, es diesmal mit einem besonders qualitätsvollen Feld zu tun zu haben, haben wir die unterste Marke zum Maßstab genommen und Soul Train für seinen Sieg 92,5 kg gegeben. Ob das zu viel ist oder zu wenig, werden die kommenden Wochen zeigen. Vielleicht ist es ja auch richtig. Manchmal sind Pferderennen eben auch Rätselraten.
So überraschend der Sieg von Soul Train für die meisten auch kam: An seinem Sieg gibt es nichts auszusetzten. Die Zeit für die 2000 Meter-Distanz von 2:04,88 Minuten war um drei Sekunden schneller als diejenige wenig später im Ausgleich III und er gewann ein korrekt gelaufenes Rennen aus der Reserve geritten in gutem Stil. Zweifel am Stehvermögen sollen der Grund für die fehlende Derbynennung sein, seine brasilianische Mutter war in ihrer Heimat ein auf Gruppe-I-Ebene erfolgreiches Meilenpferd. Auch sein Vater Manduro hat eine Verbindung zu Brasilien. Er war dort für kurze Zeit als Shuttle-Hengst tätig. Inzwischen hat Soul Train eine Nennung für das Fürstenberg-Rennen über 2400 Meter erhalten. Zweifel an seiner Ausdauer scheinen also ausgeräumt.

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Es gibt nicht allzu viele in Deutschland trainierte Pferde, die im Alter von zwei, drei und vier Jahren jeweils mindestens ein Grupperennen gewonnen haben. Wenn ich richtig gezählt habe, waren das seit Einführung des Gruppe-Rennsystems im Jahre 1972 Lord Udo, Nebos, Nandino, Lirung, Turfkönig, Eden Rock, Aspectus, Pastorius und Amaron. (Einer hat darüber hinaus sogar fünfjährig noch auf Gruppeebene gewonnen, das war Kronenkranich in den Jahren 1974-77.) Seit Sonntag muss diesem erlauchten Kreis auch Quest the Moon zugerechnet werden, denn nach dem G3-Zukunfts-Rennen vor zwei Jahren und dem G3-Prix du Lys im Vorjahr kam er jetzt auch im G2-Kronimus Preis der Badischen Wirtschaft zum Zuge. In der Hierarchie seines Jahrgangs stieg er damit weiter auf und es würde nicht Wunder nehmen, sollte er bald ganz oben stehen. Mit dem Sieg am Sonntag verbesserte der Sea The Moon-Sohn sein Rating von 94,5 kg auf jetzt 96 kg. Diese Verbesserung lässt sich sowohl über die Zweitplatzierte Durance als auch über den Vierten Windstoß nahezu bis aufs Gramm belegen. Über ihm rangiert derzeit mit einem Vorjahres-GAG von 97,5 kg nur noch Derbysieger Laccario.

Video: Grosser Preis der Badischen Wirtschaft (Gr. II) - Sieger: Quest the Moon

Das Management für Pferde wie Quest the Moon, der auf Distanzen von 2000 bis 2400 Metern zu Hause ist, wird in den kommenden Monaten schwierig sein, vor allem solange Auslandsstarts noch nicht möglich sind. Einzige Startmöglichkeit in einem Gruppe-I-Rennen in den nächsten Monaten in Deutschland wäre der Dallmayr-Preis am 26. Juli. Alternativen dazu sind auf Gruppe II oder -III-Ebene nur der Große Hansa-Preis in Hamburg und das neue Fürstenberg-Rennen am 9. August in Hoppegarten, das an die Stelle des in den Oktober verlegten Großen Preises von Berlin getreten ist. Sorgen um den Status muss man sich in diesem Jahr aber wohl bei keinem Gruppe- oder Listenrennen machen. Das European Pattern Committee hat signalisiert, dass wegen der derzeitigen Einschränkungen eine Herabstufung von Rennen nicht erfolgen soll. Der Große Preis der Badischen Wirtschaft ist in dieser Hinsicht ohnehin nicht gefährdet. Zusammen mit dem Großen Hansa-Preis ist es im langjährigen Jahresdurchschnitt seit langem unser qualitätvollstes Gruppe-II-Rennen.

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Sieht man einmal von der inzwischen eingestellten Match-Race-Serie in Hoppegarten ab, so sind Zwei-Pferde-Rennen in Deutschland und auch anderswo selten geworden. An Eines im Oktober vorigen Jahres in Longchamp werden sich alle wohl noch gut erinnern können, als Alson seinen einzigen Rivalen im G1-Criterium International in Longchamp mit 20 Längen abhängte. Beim Badener Jugend-Preis am Sonntag ging es deutlich enger zur Sache, das Zielfoto wies schließlich einen „kurzen Kopf“ Vorsprung für What´s Up gegenüber Surin Beach aus. Schade, dass es kein totes Rennen geworden ist, das wäre eine kleine Sensation geworden. „Totes Rennen“ in einem Match hat es aber schon gegeben. Als der zweijährige Hengst Ayaar (der spätere Sieger im Zukunfts-Rennen) mit Martin Harley im Sattel am 18. August 2012 in Lingfield mit seinem einzigen Gegner Snowboarder auch durch das Zielfoto nicht zu trennen war, wurde darüber spekuliert, ob dies das erste „dead heat“ in einem Zwei-Pferde-Rennen überhaupt gewesen ist. Eine kleine Recherche hat ergeben, dass so etwas zumindest 1893 und 1894 schon zweimal passiert ist, also zu Zeiten, als es noch kein Zielfoto gab. Kurioserweise war beide Male das Pferd Domino daran beteiligt, Amerikas bester Sprinter des 19. Jahrhunderts. Beim ersten Mal war das Pferd Dobbins sein Gegner, beim zweiten Mal kam er mit Henry of Navarre gleichauf durchs Ziel. Die Besitzer hatten beide Male $10.000 eingesetzt, die dann natürlich nicht zur Auszahlung kamen.
Der Handicapper hatte nach dem Iffezheimer Sieg von What´s Up noch die schöne Aufgabe, eine Handicap-Marke zu vergeben. Dazu ist er verpflichtet. Jeder Sieger, selbst wenn er als Debütant allein um die Bahn laufen sollte, muss eine Handicapmarke erhalten. Eine solche Regelung findet sich kein zweites Mal auf der Welt. Da hilft dann auch keine statistische Analyse mehr und schon gar nicht die Methode „Rechenpferd“. Die 70 kg für ihn sind nun tatsächlich einmal geraten.

Totes Rennen zwischen Domino und Dobbins
Totes Rennen zwischen Domino und Dobbins
 

Deutscher Galopp

Die neue Marke Deutscher Galopp (ehemals GERMAN RACING) bildet die große Dachmarke, unter der spannende Pferderennen und stimmungsvolle Veranstaltungen auf den deutschen Rennbahnen stattfinden. Gleichzeitig fungiert die Marke als Oberbegriff für den Galopprennsport in Deutschland.

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