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Blog: Chefhandicapper Harald Siemen

Der Gender-Gap-Index

19. August 2020

Wissenschaftler der University of California haben in den 1990er-Jahren einmal die Entwicklung der Bestzeiten in fünf wichtigen olympischen Laufdisziplinen untersucht. Nachdem sie feststellten, dass die Frauen ihre Zeiten doppelt so schnell verbessert hatten wie die Männer, stellten sie die provokante Frage: „Werden die Frauen die Männer bald überholen?“ und prognostizierten, dass der Geschlechterunterschied im Marathon um die Jahrtausendwende bereits verschwunden sein würde. Nun – daraus ist bekanntlich nichts geworden, auch weil das schnelle Aufholen der Frauen zum Teil auf planmäßiges Doping zurückzuführen war. Marita Koch, Jarmila Kratochvilova und Florence Griffith-Joyner lassen grüßen, die Inhaberinnen der ältesten noch bestehenden Weltrekorde in der Leichtathletik. Der ewige Geschlechterunterschied im Sport wird wohl bestehen bleiben.
Doch wie sieht es mit dem „Gender-Gap“ im Rennsport aus? Bei den Jockeys scheint sich die Lücke gerade mit zunehmender Geschwindigkeit zu schließen. Und bei den Pferden? Seit Ewigkeiten schon kommen die weiblichen Rennpferde in den Genuss einer Gewichtserlaubnis von drei bis fünf Pfund. Das heißt, dass Stuten in jedem Rennen, ausgenommen in Handicaps, gegenüber Hengsten und Wallachen ein Vorteil eingeräumt wird. Es gibt zwar immer wieder mal Diskussionen über die Höhe der Erlaubnis, sie gänzlich abzuschaffen fordert aber kaum jemand. Allein die Tatsache, dass sie seit Jahrhunderten besteht, spricht auch dafür, dass sie sinnvoll ist. Es gibt allerdings ein Gebiet, auf dem ein kleiner Zweifel am Sinn der Stutenerlaubnis nicht abwegig ist: bei den Grupperennen, speziell den Rennen der Gruppe I. Ich hatte kürzlich an dieser Stelle etwas über die derzeitige Ära der Superstuten gesagt, also Winx, Enable, Magical usw. Jedem dürfte klar sein, dass diese Rennmaschinen keinerlei Gewichtsvorteil brauchen, um sich erfolgreich mit der männlichen Konkurrenz auseinanderzusetzen. Vor wenigen Jahren schon veröffentlichte die Racing Post dazu eine Studie mit dem Ergebnis, dass Stuten zwischen 2011 und 2017 weltweit in für alle Geschlechter offenen Rennen der Gruppe I häufiger gesiegt haben, als es gemessen an der Häufigkeit ihrer Teilnahme zu erwarten gewesen wäre, und zwar im Verhältnis von 1,17:1.
Nun hat am Samstag in Köln Donjah den G1-Preis von Europa gewonnen und man schmälert die Leistung der Stute sicher nicht, wenn man sagt, dass ohne den ihr eingeräumten Vorteil von anderthalb Pfund der Sieger Kaspar geheißen hätte, der schließlich nur um einen „Hals“ geschlagen war. Handicapper-Rechnungen wie jetzt nach dem Preis von Europa sind Vielen, manchmal sogar beruflich im Sport Tätigen, oft nur schwer zu vermitteln – dass nämlich Kaspar trotz der Niederlage mit seiner neuen Handicapmarke von 97,5 kg (Rating 115) im Ranking über Donjah (96,5 kg = 113) zu stehen kommt. Das ist eben die Mathematik des Rennsports.

Köln - 15. August 2020: 58. Preis von Europa (Gr. I) - Siegerin: Donjah

Durch Donjahs Sieg neugierig geworden, habe ich einmal untersucht, welche Erfolgsrate Stuten in Gruppe I-Rennen in Deutschland haben. Um eine möglichst breite Grundlage zu erhalten, habe ich dabei alle offenen Rennen der höchsten Kategorie aus den letzten 25 Jahren analysiert. Danach ergibt sich das folgende Bild:

Stutensiege in Gruppe-I-Rennen 1996-2020

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Rennen Anzahl der Rennen mit Teilnahme von mind. 1 Stute Zahl der Starter/davon Stuten Anzahl der Stutensiege Erfolgsindex
Derby 11 197/13 1 1.37
Dallmayr 21 188/30 3 0.89
Berlin 16 104/26 5 1.25
Baden 13 127/24 4 1.32
Europa 16 180/37 6 1.39
Bayern 21 106/25 3 0.98
Total 98 902/155 22 1.31

Das Ergebnis ist deutlich. Bis auf den Dallmayr-Preis und den Großen Preis von Bayern „überperformen“ die Stuten in den Gruppe-I-Rennen. Am deutlichsten im Preis von Europa, der einen Erfolgs-Index von 1.39 aufweist, d.h. Stuten bleiben hier 39 Prozent über ihren rechnerischen Möglichkeiten. Bei der Wertung dieser Zahlen sollte man allerdings ein mögliches Bias einkalkulieren, also eine statistische Verzerrung, da zumeist nur die besten Stuten in ein Gruppe-I-Rennen geschickt werden. Es findet also eine strengere Vorauswahl statt als bei Hengsten und Wallachen. Die Liste der erfolgreichen Stuten steht hier.

* * *

Obwohl Donjah bereits mitten in ihrem dritten Rennjahr steht, ist sie bisher relativ wenig geprüft worden, der Europa-Preis war erst ihr neunter Lebensstart. Von Beginn an galten ihr große Erwartungen. Die Konkurrenz der Hengste wurde geradezu gesucht, denn in reinen Stutenrennen ist Donjah nur einmal gelaufen, im Henkel-Preis der Diana, bei ihrem verspäteten Jahresdebüt 2019. Als sie zweijährig im Ratibor-Rennen mit sechs Längen Vorsprung siegte, avancierte sie bei Internet-Buchmachern sogar zur Derbyfavoritin. Ein Start in Hamburg ließ sich nach zwei Trainingsstopps aber nicht verwirklichen. Der zweite Platz im Großen Preis von Baden, vier Längen vor Derbysieger Laccario, war schon eine große Sache – dummerweise war aber noch ein gewisser Ghaiyyath im Feld, der vorneweg mit 14 Längen Vorsprung durchs Ziel ging. Den verdienten Gruppe II-Sieg schaffte sie dann doch noch im Gran Premio del Jockey Club in Mailand, der ihr ein Rating von 96 kg einbrachte.
Ihr Sieg am Sonntag in Köln war nach dem doch recht nichtssagenden Start im Großen Hansa-Preis in Hamburg für die meisten eine Überraschung. Sie beendete damit nicht nur eine Serie von neun Siegen ausländischer Pferde in deutschen Gruppe I-Rennen, sondern verdiente sich mit 96,5 kg (Rating 113) auch eine neue Bestmarke. Das Maß haben wir bei der drittplatzierten englischen Stute Dame Malliot angesetzt (95,5 kg), deren offizielles englisches Rating von 116 (98 kg) uns allerdings deutlich überhöht vorkommt. Barney Roy, der Sieger des Dallmayr-Preises, versuchte sich erstmals über 2400 Meter und kam damit nicht gut zurecht. Das erfreulichste neben dem Sieg von Donjah war aber das gute Abschneiden der beiden Dreijährigen Kaspar und Grocer Jack, die im Derby als Vierter bzw. Dritter durchs Ziel gekommen waren. Sie werteten das Derby deutlich auf und konnten ihre Marken auf 97,5 kg (115) und 95,5 kg (111) steigern. Kaspar eroberte damit sogar die Spitzenposition in seinem Jahrgang. Jedenfalls fürs Erste.

 

Deutscher Galopp

Die neue Marke Deutscher Galopp (ehemals GERMAN RACING) bildet die große Dachmarke, unter der spannende Pferderennen und stimmungsvolle Veranstaltungen auf den deutschen Rennbahnen stattfinden. Gleichzeitig fungiert die Marke als Oberbegriff für den Galopprennsport in Deutschland.

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