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Blog: Chefhandicapper Harald Siemen

Black Tuesday

28. Oktober 2020

Die Italiensehnsucht der Deutschen hat ja seit Goethes italienischer Reise und seinem schönen Gedicht über das Land, wo die Zitronen blühn, zunehmend Fahrt aufgenommen. Zunächst waren es die Bildungsbürger, die im 19. Jahrhundert in Scharen nach Rom und Florenz reisten, später dann ließ Rudi Schuricke bei Capri die rote Sonne im Meer versinken, und schließlich begeisterte sich die „Toskana-Fraktion“ für den in dieser Region angeblich vorherrschenden einfachen, gleichwohl gepflegten Lebensstil mit gutem Essen und Trinken und geschmackvoller Kleidung. Auch auf die italienische Vollblutzucht und den dortigen Rennsport blickte man lange mit Sympathie und Respekt, brachte er doch so Bedeutendes hervor wie Federico Tesio, Ribot und Frankie Dettori. Davon ist kaum noch etwas übrig geblieben. Der Niedergang des italienischen Rennsports begann an einem Dienstag, dem 27. Juni 1995, als die italienische Regierung beschloss, ein gut funktionierendes Wettsystem zu reformieren. Die Buchmacher, die bis zu diesem „Black Tuesday“ Wetten zu festen Odds und zu Totalisatorkursen auf eigene Rechnung annehmen durften, wurden in die Rolle von reinen Wettvermittlern gedrängt, die alle Einsätze in den Rennbahntoto leiten. Statt zwischen 15 und 17 Prozent ihres Umsatzes an den damaligen Dachverband UNIRE zu zahlen, erhielten sie nun 42,5 Prozent der Totalisatorabzüge, die – um das neue System zu finanzieren – auf 30 Prozent angehoben wurden. Die Folge davon war nicht nur ein dramatischer Einbruch bei den Wettumsätzen, sondern auch ein Rückgang bei der Anzahl von Besitzern und Züchtern.
Fatale Auswirkungen hatte diese Entwicklung auch auf die Qualität der italienischen Spitzengalopper. Brachte der italienische Rennsport vor 20 Jahren noch Weltklassepferde wie Rakti und Falbrav hervor, so sind die italienischen Rennpferde heute auf dem Weg in die Zweitklassigkeit. Auch von den ehemals sieben Gruppe-I-Rennen ist keines mehr da, als letztes wurde im Vorjahr der Premio Lydia Tesio herabgestuft. Das ganze Elend bekam man am vorigen Sonntag auf der San Siro-Rennbahn von Mailand vor Augen geführt. Im G2-Gran Premio del Jockey Club, ein immer noch mit erstaunlichen 257.400 Euro dotiertes Rennen, in dem einst so legendäre Galopper wie die Arc-Sieger Ribot, Molvedo und Tony Bin siegten und in dem auch so bedeutende deutsche Galopper wie Königsstuhl, Lando, Caitano, Shirocco, Schiaparelli, Novellist und im Vorjahr Donjah erfolgreich waren, sah man unter sieben Startern nur zwei und dazu noch chancenlose Pferde aus Italien. Vier Teilnehmer kamen aus Deutschland, von denen Walderbe und Nerium sechs Längen vor dem Engländer Red Verdon das Rennen unter sich ausmachten.
Der Sieger Walderbe ist eine hierzulande nahezu unbekannte Größe, denn von seinen ersten 18 Starts absolvierte er 15 in Frankreich. In Deutschland lief er nur drei Mal, zuletzt am 10. Mai in Hoppegarten, als er mit einer GA-Marke von 79 kg im Handicap Letzter wurde. Irgendwie gelang es seinem Trainer Ralf Rohne danach, einen Hebel zu finden und umzulegen, vielleicht beflügelte ihn auch die italienische Luft, denn bei seinen nachfolgenden Starts in Rom und Mailand war Walderbe zunächst Zweiter im G3-Premio Ambrosiano, gewann danach den G3-Premio Carlo d´Alessio und wurde Fünfter im G2-Premio Federico Tesio. Im Sattel war dabei immer Mickaelle Michel, die 25jährige Französin, neben Hollie Doyle und Sibylle Vogt einer der Stars in der weiblichen Jockeyszene in Europa. Die Welt hatte Walderbe bei seinem Sieg zwar nicht zu schlagen, aber im Vorübergehen gewinnt man so ein Rennen auch nicht. Mit dem um sechs Längen und einen Hals geschlagenen Red Verdon (Rating 104=92 kg) bietet sich immerhin eine halbwegs verläßliche Rechengröße an, so dass man Walderbe eine Marke von 96 kg (Rating 112) zubilligen kann. Eine erstaunliche Zahl, wenn man bedenkt, wo er vor noch nicht einmal einem halben Jahr stand. Als knapp geschlagener Zweiter und mit einem neuen GAG von 95,5 kg (Rating 111) lief sich Nerium wie erwartet in die Spitzengruppe der deutschen Dreijährigen. Vor ihm platzieren sich jetzt nur noch Torquator Tasso, Dicaprio, Kaspar, Wonderful Moon und – wenn man ihn dazurechnen will – In Swoop.
Und wie geht es in Italien weiter? Die dortige Züchtervereinigung hofft wieder Anschluss zu finden, möchte mindestens ein Gruppe-I-Rennen zurück und das verlorene Stimmrecht im European Pattern Committee. Sie will, dass wieder mehr als nur jährlich 650 Fohlen geboren werden (von ehemals 2100 im Jahr 2007) und das nicht nur deutsche oder englische Pferde bei ihren Gastspielen den Status der noch vorhandenen Grupperennen garantieren, sondern auch die eigenen Pferde. Und man will, dass Bürokratie und Ineffizienz in der Führung des Rennsports durch das Landwirtschafts- und das Finanzministerium bald der Vergangenheit angehören und auch die Rennpreise wieder pünktlich gezahlt werden, so dass sie wieder stolz sein können auf ihren ehemals so großen Rennsport. Das jedenfalls sagte der Präsident der italienischen Züchter in einem Gespräch im Frühjahr mit der „Racing Post“. Wie das gehen soll, sagte er nicht.
Einen kleinen Lichtblick für Italien gab es im zweiten Gruppe-II-Rennen am Sonntag in Mailand, dem Premio Vittorio di Capua. Gegen die vermeintliche Übermacht von sieben Gegnern aus Germania überrannte der vierjährige, vom Razza Del Velino gezogene und von Alessandro Botti trainierte Out of Time vom letzten Platz kommend die Konkurrenz mit Wonnemond, Rubaiyat und Schwesterherz an der Spitze. Der Bahnsprecher war so begeistert, dass er den Sieger zum „Monster“ ausrief. Nun ja – 95 Kilo war das wert, immerhin. Wonnemond steigerte sich noch einmal und kommt auf 94 kg, der unter Form laufende Rubaiyat auf 93,5 kg.

Gran Premio del Jockey Club (ITA) - Walderbe - 25.10.2020

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Eine Tellerwäscherkarriere wie Walderbe hat auch Jin Jin hinter sich. Auch sie kam im Oktober 2017 als Jährling in den Auktionsring, allerdings bei Goffs in England wo sie für 4000 Pfund für Sabine Goldberg aus Bergen ersteigert wurde. Jetzt ist sie vier Jahre alt und hat alle ihre sechs Rennen gewonnen. Ich kann mich nicht entsinnen, dass ähnliches schon einmal vorgekommen ist, dass also eine bald fünfjährige Stute immer noch ungeschlagen ist. Nach Siegen in zwei Listenrennen gewann sie am Samstag in Saint-Cloud mit dem G3-Prix Perth ihr erstes Grupperennen, wobei sie verblüffend leicht den heißen Favoriten Alson aus dem Gestüt Schlenderhan hinter sich ließ. Jin Jin ist jetzt bei einer respektablen GA-Marke von 95 kg angelangt – und niemand weiß, wohin das noch führen soll, denn solange ein Pferd noch ungeschlagen ist, scheint alles möglich.

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Er ist wieder da. Wonderful Moon, das im Sommer aus dem Tritt geratene Wunderkind des deutschen Turfs, erhob sich am Sonntag in Hannover wie einst Lazarus vom Krankenbett und stürmte zu einem Vier-Längen-Sieg im G3-Großen Preis der Besitzervereinigung. Kein Zweifel: das war wieder das Pferd, das den Betrachter im Ratibor-Rennen und dem Cologne Classic in Erstaunen versetzt hatte und für den es keine Grenzen zu geben schien. Die gab es dann doch, aber die Hindernisse für höhere Weihen scheinen jetzt wieder aus dem Weg geräumt. Viel zu schlagen hatte er am Sonntag allerdings nicht, aber hier machte wieder einmal der Ton die Musik, auch hatte er drei Kilo mehr zu tragen als die meisten seiner Mitbewerber. Der Handicapper kommt somit wieder ziemlich genau auf 96 kg (Rating 112) , eine Marke, die Wonderful Moon zuvor schon zweimal gezeigt hat. Vielleicht läuft er diesses Jahr noch einmal, vielleicht sogar im G1-Großen Preis von Bayern in München-Riem, für den er allerdings nachgenannt werden müsste.

Wonderful Moon siegt unter Andrasch Starke im Großen Preis der Besitzervereinigung; Copyright: Marc Rühl
Wonderful Moon siegt unter Andrasch Starke im Großen Preis der Besitzervereinigung; Copyright: Marc Rühl
 

Deutscher Galopp

Die neue Marke Deutscher Galopp (ehemals GERMAN RACING) bildet die große Dachmarke, unter der spannende Pferderennen und stimmungsvolle Veranstaltungen auf den deutschen Rennbahnen stattfinden. Gleichzeitig fungiert die Marke als Oberbegriff für den Galopprennsport in Deutschland.

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