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Blog: Chefhandicapper Harald Siemen

Alles klassisch, oder was?

30. September 2020

Unter einem klassischen Rennen kann man ja Verschiedenes verstehen. Der Radsportler denkt an Mailand-San Remo, Paris-Roubaix oder die Flandern-Rundfahrt, der Motorsport-Fan eher an die 24 Stunden von Le Mans, die 500 Meilen von Indianapolis oder die Mille Miglia. Im Vollblutsport schaut man dabei auf die Klassiker German 1000 Guineas, Mehl-Mülhens-Rennen, Deutsches Derby, Preis der Diana und – das Deutsche St. Leger? Nach dem Sieg von Quian im RaceBets 136. Deutschen St. Leger vor zehn Tagen in Dortmund hat es – nicht zum ersten Mal – Diskussionen darüber gegeben, ob denn das St. Leger auch noch in diese Reihe gehört.
Ein klassisches Rennen ist ja weder eine geschützte Marke, noch ist irgendwo (und schon gar nicht in der Rennordnung) definiert, was einen Klassiker ausmacht. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird man darunter etwas verstehen, was überregional bekannt ist, eine lange Tradition und eine hohe Qualität in sich vereint. Im Galoppsport hat man sich am englischen Vorbild orientiert, der Begriff des klassischen Rennens im heutigen Sinne hat sich in Deutschland aber nur langsam entwickelt. So heißt es noch in der zweiten Auflage von Victor Silberers „Turf-Lexicon“ aus dem Jahre 1890: “Classische Rennen sind nur die größten Zuchtrennen eines Landes. (…) In Deutschland können das Derby und die Union dazu gerechnet werden.“ Vom Henckel-Rennen (dem seit 1871 gelaufenen Vorläufer des Mehl-Mülhens-Rennens) und dem 1881 erstmals entschiedenen St. Leger war noch keine Rede, ganz zu schweigen von den German 1000 Guineas, die erst 1918 unter dem Namen Kisasszony-Rennen ins Rennprogramm eingeführt wurden. Im 20. Jahrhundert hat sich jedoch recht bald die Vorstellung von einer „Dreifachen Krone“ entwickelt, also dem Gewinn von Mehl-Mülhens-Rennen, Derby und St. Leger. Mit der Dreifachen Krone sollte dasjenige Pferd ausgezeichnet werden, das durch Siege in den drei genannten Rennen nicht nur die Überlegenheit gegenüber den dreijährigen Altersgefährten bewiesen hatte, sondern darüber hinaus auch sein Können auf drei so unterschiedlichen Renndistanzen wie 1600, 2400 und 2800 Meter. Bekanntlich ist dies bei uns mit Königsstuhl im Jahre 1979 nur einem Pferd gelungen.
Versteht man unter einem klassischen Galopprennen also ein Rennen, in dem nur Pferde eines Jahrgangs geprüft werden (nämlich die Dreijährigen), so muss man das St. Leger aus der Reihe der Classics streichen, denn seit 2007 sind auch ältere Pferde zugelassen. Zufällig hat das letzte St. Leger alter Art mit Schiaparelli noch einmal ein Derbysieger gewonnen. Danach, also seit 13 Jahren, ist in diesem Rennen überhaupt kein Derbysieger mehr gelaufen. Für ein teilnehmendes dreijähriges Pferd hat sich der Charakter des St. Legers allerdings in großen Teilen erhalten, denn die Anforderungen an einen Sieg sind ja nicht geringer geworden, sie sind eher noch gestiegen, da jetzt nicht nur Altersgefährten, sondern zusätzlich noch Gegner anderer Jahrgänge hinzugekommen sind. Insoweit wäre es nur recht und billig, einem dreijährigen St.Leger-Sieger auch heute noch den Status eines klassischen Siegers zuzuerkennen – und für den (allerdings sehr unwahrscheinlichen) Fall, dass dieser zuvor bereits in Derby und Mehl-Mülhens-Rennen siegreich gewesen ist, auch den Titel eines Trägers der Dreifachen Krone. Ob allerdings ein vierjähriger oder noch älterer Gewinner des St. Legers als klassischer Sieger gelten soll, dürfte Geschmacksache sein. Soll man z.B. in El Tango, der das St. Leger als Einziger zweimal gewonnen hat (als Dreijähriger und als Fünfjähriger), einen doppelten klassischen Sieger sehen? Wohl eher nicht.
In den letzten Jahren, in denen es im St. Leger zu einem Jahrgangsvergleich gekommen ist, haben die Dreijährigen besser abgeschnitten. Obwohl sie nur 36 Prozent der Starter stellten (43 von insgesamt 120), haben sie sechs der 13 Rennen gewinnen können, also deutlich mehr als statistisch zu erwarten war. Auch angesichts dieser Zahlen muss man sich wundern, dass diesmal – zum ersten Mal überhaupt – kein Dreijähriger am Start war. Das ändert natürlich nichts an der Leistung des Siegers Quian, die nicht unterschätzt werden sollte, denn nicht nur er selbst, auch die Pferde auf den Plätzen zwei bis vier (Sommelier, Rip van Lips und Calico) machen den Eindruck noch weiter steigerungsfähiger Steher. Ausgehend von der fünftplatzierten Apadanah, die in ihren vier Rennen zuvor bei gleicher oder ähnlicher Platzierung nie weniger als 89 Kilo gezeigt hat, ergibt sich für Quian ein neues GAG von 93 kg (Rating 106).

Dortmund - 20. September 2020: RaceBets - 136. Deutsches St. Leger (Gr. III) - Sieger: Quian

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Die Saison der Zweijährigen ist in diesem Jahr besonders schwer in Gang gekommen. Für die Hengste gab es bisher erst ein Grupperennen und ein Listenrennen zur Profilierung, für die Stuten noch ein Listenrennen mehr. So kommt es, dass aktuell erst vier Hengste und sechs Stuten Leistungszahlen von mehr als 85 kg vorzuweisen haben. Die Liste bei den Hengsten führt Juanito mit 91,5 kg an, dahinter folgen Sardasht (89,5), Waldersee (89) und Timotheus (87,5 kg), also die Platzierten aus dem Zukunfts-Rennen. Bei den Stuten steht die Zukunfts-Siegerin Reine d'Amour mit 90,5 an der Spitze. Ganz nah zu ihr aufgerückt ist seit vorigem Sonntag Peaches, deren Sieg im Kölner Winterkönigin Trial gegen Amazing Grace und fünf weitere Gegner für uns Handicapper 90 Kilo wert war.

Für ein Listenrennen für zweijährige Stuten ist das mehr als durchschnittlich, aber alle sieben Teilnehmer sahen nicht nur – wie mir mein Kollege Christoph von Gumppenberg versicherte – durch die Bank hervorragend aus, auch indirekte Rechnungen, vor allem über die Gegnerinnen, die Amazing Grace im Juli bei ihrem Debüt als Zweite in Chantilly getroffen hat, erlauben eine optimistische Sichtweise. Die weitere Reihenfolge bei den Stuten: Shila (89), Noble Heidi (88,5), Amazing Grace (87) und Salonlove (86,5 kg).

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Am kommenden Wochenende ist nicht nur in Hoppegarten und Düsseldorf mit insgesamt drei Grupperennen großer Betrieb, in ParisLongchamp erreicht dazu die europäische Rennsaison mit dem Prix de l'Arc de Triomphe ihren Höhepunkt. Vor 100 Jahren wurde das Rennen gegründet, da es zweimal ausgefallen ist (1939-40) gibt es am Sonntag die 99. Ausgabe dieses Rennens, das in den meisten Jahren das am stärksten besetzte Galopprennen weltweit ist, wenn man sich an den Ratings der teilnehmenden Pferde orientiert. Der erste „Arc“, den ich gesehen habe, war 1972. Die Reise von Köln aus wurde mit einem alten Renault R4 angetreten, Übernachtungen in Paris waren noch für 30 Mark möglich, wenn auch nicht sehr komfortabel. Ich war damals Inhaber einer Presse-Legitimationskarte des Direktoriums, eine Zauberkarte, mit der man damals nicht nur in unmittelbarer Nähe des Haupteingangs parken konnte, sondern auch Zugang zu nahezu allen Bereichen der Rennbahn hatte. Gewonnen wurde dieser Arc von Gräfin Batthyanys San-San, womit ich gleich Bekanntschaft mit der Tatsache machte, dass auch Außenseiter das größte Rennen der Welt gewinnen können, denn San-San zahlte 196:10. Bei ungefähr der Hälfte der danach folgenden „Arcs“ war ich persönlich anwesend, auch bei den beiden deutschen Arc-Siegen durch Star Appeal und Danedream. Ein Sieg von Star Appeal erschien mir damals unerreichbar, so dass das vorherrschende Gefühl danach erstaunte Ungläubigkeit war. Bei Danedream dagegen hatte ich insgeheim Hoffnungen, so dass ihr überwältigender Sieg in der Liste meiner Rennbahnerlebnisse an der Spitze steht – und zwar mit unerreichbar weitem Abstand. (In ungefähre Nähe kommt allenfalls der Derbysieg von Surumu.) Das beste Pferd, das ich in der langen Zeit in Longchamp gesehen habe, war Sea The Stars.

Sea The Stars gewinnt den Prix de l'Arc de Triomphe 2009

Er war das perfekte Rennpferd, gewann dreijährig von Mai bis Oktober sechs Gruppe I-Rennen, in jedem Monat eines, egal über welche Distanz, 1600, 2000 oder 2400 Meter. Am Zustandekommen seines Ratings von 136 (108 kg) durfte ich beteiligt sein. Ein wenig Schlenderhaner „Blut“ führt Sea The Stars bekanntlich auch in seinem Pedigree, ebenso die Arc-Sieger Sagace und Urban Sea. Am Sonntag soll wieder einmal ein echter Schlenderhaner dabei sein. Zählt man den verwandten Stall Ullmann dazu, dann wäre Derbysieger In Swoop der 14. Arc-Starter aus dem Hause Oppenheim/Ullmann. Hier ihre Namen, Reiter und Platzierungen:

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1928 Oleander (L.Varga) 5.
1929 Oleander (J.Childs) 3.
1937 Sturmvogel (A. Rabbe) 5.
1998 Tiger Hill (A.Suborics) 3.
1999 Tiger Hill (T.Hellier) 5.
2005 Shirocco (St.Pasqier) 4.
2006 Shirocco (C.Soumillon) 8.
2007 Getaway (O.Peslier) 4.
2008 Getaway (O.Peslier) 8.
2009 Getaway (St.Pasqier) 13.
2010 Wiener Walzer (T.Queally) 13.
2014 Ivanhowe (W.Buick) 18.
2016 Savoir vivre (F.Tylicki) 8.
2020 In Swoop (R.Thomas) ?
 

Deutscher Galopp

Die neue Marke Deutscher Galopp (ehemals GERMAN RACING) bildet die große Dachmarke, unter der spannende Pferderennen und stimmungsvolle Veranstaltungen auf den deutschen Rennbahnen stattfinden. Gleichzeitig fungiert die Marke als Oberbegriff für den Galopprennsport in Deutschland.

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