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Blog: Chefhandicapper Harald Siemen

Das "Monster" von Baden-Baden

4. September 2019

„Man darf nicht alles glauben, was man sieht“, heißt es in Molieres Komödie „Tartuffe oder der Betrüger“, die 1664 unter Beisein des Sonnenkönigs Ludwig XIV. in Versailles uraufgeführt wurde und auch heute noch als lustige Nummer häufig auf den Spielplänen der Theater steht. Vor zwei Jahren hing sie sogar als Motto auf einem Spruchband an der Fassade des Staatstheaters in Mainz. Eine Rennbahn mit einem Theater zu vergleichen, ist gar nicht so abwegig, allerdings hört man dort oft Dinge, die man besser nicht glauben sollte. Aber auch was Rennausgänge angeht, wird die Einsicht, an das Gesehene zu glauben, nicht selten auf eine harte Probe gestellt. In ganz besonderer Ausprägung war das am Sonntag beim 147. Longines Großen Preis von Baden der Fall, denn die Vorstellung, die der vierjährige Hengst Ghaiyyath und sein Jockey William Buick den 18.000 Besucher an diesem unvergesslichen Renntag boten, schien nicht von dieser Welt zu sein und wird von keinem, der live dabei war oder das Rennen am Bildschirm verfolgt hat, je vergessen werden. Es war – wenn man denn daran glaubt – eine der größten Leistungen, die ein Pferd auf einer deutschen Rennbahn vollbracht hat, vielleicht war es sogar die größte. Vor Erstaunen klappte den Zuschauern die Kinnlade herunter, als der Godolphin-Galopper nach der Hälfte des Rennens vorne an der Spitze das Tempo immer mehr forcierte, so dass die meisten seiner Gegner schon weit vor Erreichen der Geraden die weiße Fahne heraushängten und der Zielrichter den Abstand zur zweitplatzierten Donjah schließlich mit surreal anmutenden 14 Längen bezifferte. Ein „Vorsprung für die Ewigkeit“, wie es im „Badischen Tagblatt“ am nächsten Tag so treffend hieß.

Video: Longines Großer Preis von Baden (Gr.I) - Sieger: Ghaiyyath

Darf man also glauben, was man da gesehen hat, oder war das zu gut, um wahr zu sein? Man erinnert sich an andere große Rennen, die hochüberlegen gewonnen wurden, aber an die kraftvolle Dominanz, die Ghaiyyath bei seinem Sieg ausstrahlte, kam doch keiner dieser Sieger heran. Selbst Orofino nicht, der im Deutsche Derby 1981 mit einer „Weile“ siegte. Er war der Erste, der ein deutsches Gruppe-I-Rennen mit mehr als 10 Längen gewinnen konnte, 12 ¾ Längen waren es genau. 2014 gelang das auch Sea The Moon bei seinem unvergessenen Derbysieg (11 Längen). Auch andere Kantersiege erscheinen vor dem geistigen Auge, wie Lombards 9-Längen-Erfolg im Großen Preis von Nordrhein Westfalen, die beiden 8-Längen-Siege von Lomitas im Preis von Europa und von Pastorius im Dallmayr-Preis, ebenfalls die 7-Längen-Gala von Lomitas im Großen Preis von Baden 1991. Dazu die elf Längen von Wurftaube im St. Leger und natürlich die 15 Längen, mit denen Arcadio 2005 das Bavarian Classic gewann – bis heute der Rekord-Vorsprung in einem deutschen Gruppe-Rennen. Danach stellt man fest, dass das doch alles verdammt gute Pferde waren, und entschließt sich, den Tatsachen ins Auge zu sehen.

Ghaiyyath bei seinem überlegenen 14 Längen Sieg im Longines Großen Preis von Baden, Copyright: Marc Rühl
Ghaiyyath bei seinem überlegenen 14 Längen Sieg im Longines Großen Preis von Baden, Copyright: Marc Rühl

Was bleibt einem auch anderes übrig als Handicapper? Trotzdem steht er vor einem Dilemma. Denn entweder akzeptiert er, dass – bis auf Donjah – alle anderen Starter aufgrund der Besonderheiten dieses Rennens weit unter ihren Vorleistungen geblieben sind, oder er begibt sich in das Reich der Fantasie und bedenkt den Sieger mit einem Rating deutlich oberhalb der 105-Kilo-Grenze (Rating 130). Ich habe mich für die erste Möglichkeit entschieden. Damit ist nicht gesagt, dass Ghaiyyath nicht in derartige Sphären vorstoßen kann, vielleicht sogar schon in viereinhalb Wochen beim Prix de l´Arc de Triomphe, seiner wahrscheinlich nächsten Aufgabe, wo dann voraussichtlich Gegner wie Enable, Crystal Ocean und Japan warten. Sollte er auch gegen diese bestehen können, sind wir gerne bereit, auch seinen Sieg im Großen Preis von Baden rückwirkend noch höher zu bewerten, so wie wir das seinerzeit nach dem Arc-Sieg von Danedream schon einmal getan haben.

Vorläufig haben wir Ghaiyyath auf eine Marke von 103,5 Kilo gestellt (Rating 127). Sie errechnet sich über Donjah, die mit 93 kg (106) ins Rennen gegangen ist. Die 14 Längen werten wir über die 2400-Meter-Strecke mit neun Kilo, hinzu kommen noch die 1 ½ Kilo, die Ghaiyyath als Hengst mehr getragen hat. Damit bleibt Ghaiyyath nur um ein Pfund hinter der Marke von Enable zurück, der augenblicklichen Nummer eins auf der Welt. Es ist aber die zweithöchste Marke, die in diesem Jahr weltweit für ein Rennpferd vergeben worden ist.

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Viele werden vielleicht nicht verstehen, dass Donjah, nachdem sie doch den Derbysieger Laccario mehr als vier Längen hinter sich gelassen hat, auf ihrer alten Marke von 93 Kilo stehenbleibt. Aber Donjahs Marke war für uns der einzig vernünftige Zugang zu diesem Großen Preis von Baden, der ja nicht mit normalen Maßstäben zu messen ist, denn nicht nur der Abstand zwischen den vorderen Pferde ist spektakulär, auch dahinter gab es zum Teil riesige Abstände, die es sonst in Rennen dieser Kategorie auf gutem Boden nicht gibt. Es ist anzunehmen, dass die durch den späteren Sieger eingeleitete Tempoverschärfung nach halber Strecke zu dieser Situation geführt hat. Dass auch der Handicapper mit dem letztendlichen Ergebnis, wonach Donjah weiterhin – unter Berücksichtigung der Stutenerlaubnis – drei Kilo unter Laccario zu stehen kommt, nicht glücklich ist, darf angenommen werden. Das muss derzeit aber hingenommen werden. In drei Wochen, wenn beide beim Preis von Europa vielleicht erneut aufeinandertreffen, besteht die Chance, das zu korrigieren.
Ein Wort noch zur Zeit dieses Großen Preises von Baden. 2:30,08 Minuten sind absolut gesehen nicht sonderlich schnell. Und doch ist diese Zeit in den vergangenen 20 Jahren nur einmal unterboten worden (Quijano, 2:28,2). Zwischen 2019 und 2000 ist der Sieger nur dieses eine Mal unter 2:30 Minuten ins Ziel gekommen, während das in den 20 Jahren zwischen 1999 und 1978 zwölf Mal der Fall war. Es hat also den Anschein, als sei die Iffezheimer Bahn über die Jahre hinweg zumindest auf der 2400 Meter-Strecke langsamer geworden. Oder werden die Rennen heute langsamer gelaufen? Oder sind vielleicht sogar die Pferde schlechter geworden?

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Video: Wackenhut Mercedes Benz Preis Zukunftsrennen (Gr.III) - Sieger: Alson

Das neben dem Großen Preis eindrucksvollste Rennen der Großen Woche war für mich das Zukunfts-Rennen, in Partnerschaft mit Wackenhut Mercedes Benz. Schon lange habe ich keinen deutschen Zweijährigen mehr gesehen, der so imponierend gewonnen hat wie Alson, der in der Zielgeraden aus hinteren Regionen auf eine Art beschleunigte, die einen staunen ließ. Die Erwartungen an dieses Pferd waren ja schon vorher sehr hoch gewesen, daraus hatte der Trainer kein Geheimnis gemacht. Dass jetzt ganz oben angegriffen werden soll, im G1-Prix Lagadere am Arc-Tag, erscheint nur konsequent. Wir haben Alson auf 93,5 kg gestellt, für einen Zukunfts-Sieger ist das eine sehr ordentliche Marke und auch 1 ½ Kilo mehr, als im Vorjahr Quest the Moon bekommen hat. Die Rechnung ging dabei über das zweitplatzierte englische Pferd. Es war der erste Schlenderhaner Sieg in diesem Rennen seit 1966, als Priamos gegen Presto und Pentathlon gewann. Das war eines der besten Zukunfts-Rennen aller Zeiten, denn Priamos und Pentathlon konnten später in Frankreich sogar Gruppe I-Rennen gewinnen, Presto immerhin Gruppe 3 und in Deutschland das Henckel-Rennen, das jetzige Mehl-Mülhens-Rennen. Dass auch Alson einmal in diese Klasse hineinwächst, darf man hoffen. Spannend wird auch sein, welche Distanzbereiche er abzudecken in der Lage ist. Der Vater Areion war zwar Flieger und bringt vorwiegend Flieger und Meiler, aber ein gutes Drittel seiner Gruppe- und Listensieger haben auch über mehr als 2000 Meter gewonnen. Und die Mutter Assisi ist immerhin eine Galileo-Tochter aus einer Diana-Siegerin und hat selbst über 2400 Meter gewonnen. Am 24. September ist Nennungsschluss für das Deutsche Derby 2020.

 

Deutscher Galopp

Die neue Marke Deutscher Galopp (ehemals GERMAN RACING) bildet die große Dachmarke, unter der spannende Pferderennen und stimmungsvolle Veranstaltungen auf den deutschen Rennbahnen stattfinden. Gleichzeitig fungiert die Marke als Oberbegriff für den Galopprennsport in Deutschland.

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