Login
Online-Service
Schliessen
Login

Zum Tode von Alexandra Gutiérrez

Der ferne Klang

11. Januar 2021

Am Tag vor Heiligabend ist Alexandra Gutiérrez gestorben. Sie wurde 91 Jahre alt. Als diese Nachricht vor wenigen Tagen die Öffentlichkeit erreichte, musste man kurz innehalten – und aus der Stille heraus hörte man einen fernen Klang. Man hörte ihn nicht deshalb, weil er erst den weiten Weg von Uruguay über den Atlantik bis hierher finden musste. Der Klang glich vielmehr einem Raunen, das aus den Tiefen der Vergangenheit herübertönte in unsere Gegenwart und daran erinnerte, dass nunmehr eines der größten Kapitel aus der Welt der Vollblutzucht und des Galopprennsports endgültig zu Ende gegangen ist.

Man muss schon ein gewisses Alter erreicht haben, um noch zu wissen, wer Alexandra-Beatrix Gutierrez war und woher sie, die von Freunden nur Lanka genannt wurde, kam. Als Tochter des aus der Bankiersfamilie d'Avigdor stammenden Rudolf Graf von Spreti und der Marie-Elisabeth „Mary“ von Weinberg kam sie am 15. Januar 1929 zur Welt. Mary war eine von zwei adoptierten Töchtern des hochdekorierten Frankfurter Wissenschaftlers Arthur von Weinberg, einem genialen Erfinder synthetischer Farbstoffe, dessen Unternehmen Cassella Weltgeltung besaß und 1925 im Konzern „I.G. Farben“ Aufnahme fand. Schon 1896 hatte Arthur von Weinberg zusammen mit seinem Bruder Carl das Gestüt Waldfried am Rande der Stadt Frankfurt gegründet, das rasch zu einem der führenden Vollblutgestüte Deutschlands aufstieg. Die Beliebtheit der blau-weiß gestreiften Waldfrieder Farben war damals grenzenlos. Das Publikum hatte ein unerschütterliches Vertrauen zum Rennstall der Brüder Weinberg, dessen einziges Bestreben darin bestand, die Pferde offen, ehrlich und ohne diplomatisches Management prüfen zu lassen. Die sportlichen Erfolge setzten unmittelbar nach Gründung des Gestüts ein, wobei der Mutterstute Festa eine besondere Rolle zukam, denn sie brachte mit ihren zwischen 1902 und 1906 geborenen Fohlen Festino, Fels, Fabula, Faust und Fervor fünf Jahre in Folge das herausragende Pferd des jeweiligen Jahrgangs – ein in der Geschichte der Vollblutzucht einmaliges Vorkommnis. Waldfrieder Pferde gewannen acht Mal das Deutsche Derby und insgesamt 47 klassische Rennen. 1921 belegten in Waldfried gezogene Pferde im Derby die Plätze eins bis vier.

Nach 1933 brachen zunehmend schwere Zeiten für Waldfried an. Weniger für Gestüt und Rennstall als für Leib und Leben ihrer Besitzer, die zwar evangelisch getauft, aber jüdischer Abstammung waren und deshalb Drangsalierung und Verfolgung zu gewärtigen hatten. Der Rennstall, der seit 1919 unter der Leitung von Rudolf von Spreti stand, war 1937 gerade noch rechtzeitig durch Schenkung an Arthur von Weinbergs Tochter Mary übergegangen, also an die Mutter von Alexandra Gutiérrez. Nach der Progromnacht vom 9. November 1938 waren die Brüder Weinberg Enteignung und Verfolgung ausgesetzt. Carl konnte noch rechtzeitig ins Exil nach Italien fliehen, wo er 1943 starb. Arthur war zu seiner Tochter Mary auf ihren Familiensitz nach Hochschloss Pähl in Oberbayern gezogen, wo er am 4. Juni 1942 auf Betreiben des Gauleiters von München-Oberbayern zu einer Sammelstelle nach München und von dort aus ins KZ Theresienstadt gebracht wurde. Dort musste er, der große Mäzen und Wohltäter der Stadt Frankfurt und deren Ehrenbürger, seine letzten Tage in tiefster Demütigung verbringen, bevor er am 20. März 1943 starb, sechs Tage nach seinem Bruder. Welchen Irrsinn der Rassenwahn der damaligen Zeit hervorbrachte, zeigt exemplarisch die Tatsache, dass wenige Monate vor dem gewaltsamen Tod Arthur von Weinbergs dessen Lieblingsenkel Ludwig von Spreti, der 12 Jahre ältere Bruder von Alexandra Gutiérrez, als Teil der 6. Armee vor Stalingrad sein Leben ließ.

Mary von Spreti hat nach dem Krieg keine Rennbahn mehr betreten. Sie hat überhaupt ihren Wohnsitz auf Hochschloss Pähl, in dem sie im oberen Teil einige Zimmer bewohnte, kaum mehr verlassen. Sie wollte nicht denjenigen begegnen, die ihrem Vater während der Nazizeit nicht einmal mehr die Hand gegeben haben. So sah man nun die junge Gräfin Alexandra bei Starts der Waldfrieder Pferde auf der Rennbahn. Zunächst noch, bis zu dessen Tod im Jahre 1955, an der Seite ihres Vaters Rudolf von Spreti, der seit Ende des Krieges auch der erste Präsident des neu gegründeten Direktoriums für Vollblutzucht und Rennen war. Ihre Mutter Mary hat noch die Derbysiege von Mangon, Baalim und Elviro erlebt und sich darüber, wie über jeden Start eines ihrer Pferde, berichten lassen. Sie hatte aber auch die Zerstörung von Waldfried im März 1944 durch einen Bombenangriff erleben müssen und die nachfolgende Verlegung der Waldfrieder Zucht nach Römerhof und schließlich nach Altefeld. Mary Gräfin von Spreti starb im November 1969, Gestüt und Rennstall fielen nun an ihre Tochter Alexandra.

Diese war seit 1951 mit Uwe Scherping verheiratet, den Gräfinnentitel hatte sie nach der Heirat bewußt abgelegt. Uwe Scherping fand sich schnell zurecht in der Vollblutwelt. Er bekleidete zahlreiche Ämter und war von 1967 bis zu seinem Tod im Jahre 1979 im Alter von nur 63 Jahren ein allseits beliebter, geachteter und erfolgreicher Präsident des Direktoriums für Vollblutzucht und Rennen. Es ist überliefert, dass im Hause Scherping auf Hochschloss Pähl vom Morgen bis zum Abend über Pferde gesprochen wurde. Leider erwies sich der 1963 erfolgte Umzug der Waldfrieder Zucht in das rauhe Klima von Altefeld nahe Herleshausen an der ehemaligen Zonengrenze als wenig vorteilhaft. Große Siege wurden seltener. Letzte Höhepunkte waren 1968 der Derbysieg von Elviro und der Erfolg von Ipanema im Preis der Diana, eine Stute, die Alexandra Scherping über den Stall Wolkenstein zugefallen war. Das war ein „Damenklub“, dem neben ihr noch Delia zu Oettingen-Wallerstein, Margit Batthyany, Ruth Delius, Ilse Bscher und Karin von Ullmann angehörten. Sie besaßen die Mutterstute Ivresse und teilten Jahr für Jahr deren Nachkommen unter sich auf.
Zu dieser Zeit war Alexandra Scherping schon häufig im Gestüt Altefeld anzutreffen und um sechs Uhr morgens in alten Klamotten und Gummistiefeln dort zupacken, wo sie gebraucht wurde. Ohne ihre Pferde, so bekannte sie einmal, könne sie nicht leben. Aber der Tod ihres Mannes und die am Ende immer schwächer werdende Bilanz von Gestüt und Rennstall schufen eine neue Situation, zumal die Töchter Bettina, die heute auf Hochschloss Pähl lebt, und Monika nur wenig Interesse am Rennsport zeigten. Am 9. Oktober 1981 wechselten in Köln 37 der 38 angebotenen Pferde auf einer Auktion den Besitzer – Waldfried wurde aufgelöst. Das zurückbehaltene Pferd war eine Stute namens Theresa, die 1991 noch für einen Epilog im Geschichtsbuch von Waldfried sorgte, als ihr Sohn Temporal das Deutsche Derby gegen Lomitas gewann. So hat Alexandra Gutiérrez am Ende den Waldfrieder Zuchterfolgen im Derby noch einen neunten Sieger hinzufügen können.

Punta del Este ist ein Badeort an der Mündung des Rio de la Plata in Uruguay. Dort hatten sich Alexandra und Uwe Scherping schon in den frühen 1970er-Jahren einen Rückzugsort gesichert. Auf der benachbarten Hazienda lebte Cesar Juan „Pocho“ Gutíérrez, mit dem beide bald eine enge Freundschaft verband, die am 14. Februar 1981 zum Bündnis zwischen der Witwe und dem Junggesellen führte. Meist einmal jährlich führte sie danach der Weg von Uruguay zurück nach Deutschland, mit Aufenthalten auf dem Fährhof, wo ihre kleine Zucht untergebracht war, in Baden-Baden, Hoppegarten und natürlich Hochschloss Pähl.
Eine kurze, schwere Krankheit setzte diesem langen, bewegten und so reichen Leben am 23. Dezember 2020 ein Ende.

Text: Harald Siemen

Weitere Meldungen

  • Rennbahn Hoppegarten

    Große Saisoneröffnung mit „Galopper des Jahres“, Derbyrevanche und Top-Wetter

    Berlin-Hoppegarten 27.03.2024

    Mit zwei Internationalen Listenrennen als rennsportliche Highlights geht es am Ostersonntag (ab 13 Uhr) auf der Rennbahn Berlin-Hoppegarten in die Saison 2024. Top-Trainer aus allen Richtungen Deutschlands haben Nennungen für die Saisoneröffnung abgegeben: Allein 11 Starter kommen aus Rennställen der Hoppegartener Trainer: Roland Dzubasz (sattelt sieben Starter), Eva Fabianova (drei Starter, darunter der erste Ritt von Lilli-Marie Engels für ihren neuen Rennstall) und Sarka Schütz (mit einem Starter vertreten).

  • WETTSTAR.de

    WETTSTAR-Live-Sonder-Sendung und Cashback-Aktion zum Dubai World Cup!

    Dubai 26.03.2024

    Es ist der Geldregen in der Wüste: Über 30 Millionen Dollar an Rennpreisen werden am Samstag, 30. März 2024, beim Dubai World Cup-Renntag auf dem hochmodernen Rennkurs in Meydan in der Stadt der Superlative am Persischen Golf ausgeschüttet. Auch in diesem Jahr starten hier Weltklasse-Galopper der verschiedensten Kontinente.

  • Zuchtnews

    Ur-Enkelin der Priamos-Stute Königsalpen wird „TDN Rising Star“

    International 26.03.2024

    Der Titel des „TDN Rising Star“ wird von der Thoroughbred Daily News an viel versprechende junge Pferde vergeben, und der jüngste Titel in Europa geht an die am Sonntag in Naas auch beim zweiten Start ungeschlagene und und souverän erfolgreiche Calyx-Tochter Purple Lily.

 
 

Newsletter abonnieren

Deutscher Galopp

Die neue Marke Deutscher Galopp (ehemals GERMAN RACING) bildet die große Dachmarke, unter der spannende Pferderennen und stimmungsvolle Veranstaltungen auf den deutschen Rennbahnen stattfinden. Gleichzeitig fungiert die Marke als Oberbegriff für den Galopprennsport in Deutschland.

Imagefilm

Deutscher Galopp Imagefilm